Jahresrückblick 2022 Ein Krieg erschüttert Europa – Das Jahr der Zeitenwende

Jahresrückblick 2022: Ein Krieg erschüttert Europa und stellt Solidarität auf die Probe
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Es gibt Momente, die brennen sich unauslöschlich in das Gedächtnis ein. Der Morgen des 24. Februar 2022 ist so einer, ebenso wie der 9. November 1989. Das zweite Datum steht für die Freude, dass der Wille nach selbst bestimmtem Leben stärker ist als staatliche Unterdrückung. In diesem Jahr brutal auf die Probe gestellt durch russischen Imperialismus.

Menschen feiern auf der Berliner Mauer die Wiedervereinigung
Ausgelassene Feierstimmung: Mit unbändiger Freude und dem Glauben daran, dass künftig alle Menschen in Europa in Frieden und Freiheit leben werden, starteten die Menschen 1990 ins neue Jahr. © picture alliance / dpa

Mein Kollege Wolfram Kiwit und ich nahmen an diesem 24. Februar 2022 an der Redaktionskonferenz unserer Politikredaktion teil. Keine drei Flugstunden von uns entfernt fielen Bomben, flogen Raketen, starben Menschen. „Krieg in Europa“ titelten wir die Sonderausgabe, die digital erschien. Bei der Konzeption der Ausgabe des nächsten Tages entfuhr mir: „Den ersten Teil machen wir bitte ausschließlich Kriegsberichterstattung.“ Wir schauten uns alle betreten an: Kriegsberichterstattung! Dass wir einen solchen Begriff einmal nutzen würden – unvorstellbar. Aufgewachsen im sogenannten Kalten Krieg hatten wir nur das Glück des Friedens kennengelernt. Kriegerische Auseinandersetzungen hatten wir nur auf anderen Kontinenten oder durch ethnische Konflikte heraufbeschworen erlebt. An diesem Tag aber spürten wir, dass der Angriffskrieg auf ein Land in Europa auch unser Leben massiv verändern wird.

Begriffe wie Blutzoll oder Kanonenfutter, Artillerie oder Infanterie, sie kamen in unserem Sprachgebrauch nicht vor und erlangten doch innerhalb von kürzester Zeit Bedeutung. Die Ukraine war und ist ganz sicher kein lupenreiner demokratischer Staat. Aber sie hatte sich auf den Weg gemacht, demokratische, freiheitliche Strukturen auszuprägen. Und ganz sicher stellte sie keine faktische Bedrohung für ein anderes Land dar. Doch wie sehr Freiheit in Gefahr gerät, wenn Despoten wie Wladimir Putin genau vor dieser Freiheit Angst bekommen, mussten wir alle in diesem Jahr erkennen.

Der Irrglaube, durch wirtschaftliche Beziehungen Stabilität im Miteinander der Staatengemeinschaft abzusichern – ein fataler Trugschluss, der zusätzlich noch eine unverantwortliche Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie nach sich zog. So sehr die Regierung Merkel in der Banken- und Finanzkrise Schaden von Deutschland abgewendet hatte, so sehr wird diese Fehlpolitik die Bilanz auf Dauer prägen.

Dem Schock der ersten Tage, als es scheinbar nur um die Frage ging, wie schnell die Ukraine kapituliert und wann schwer bewaffnete russische Soldaten an der Grenze zu Polen, Moldawien oder Ungarn stehen, folgte ein kaum für möglich gehaltenes Zusammenrücken der demokratischen, für die Freiheit jeder Gesellschaftsform einstehenden Gemeinschaft. Deutschland lief in dieser Phase den USA, Frankreich und Großbritannien hinterher, suchte seine Rolle in der Staatengemeinschaft.

Politik lebt immer auch von Symbolen. Die 5000 Helme, die die Bundesregierung wenige Tage vor dem Ausbruch des Krieges der um Unterstützung flehenden Ukraine als „ganz deutliches Signal der Unterstützung“ zusagte, kamen einem Offenbarungseid der deutschen Außenpolitik gleich.

Das war kein Akt der Unterstützung, es war ein Akt der Hilflosigkeit im Umgang mit kriegerischen Bedrohungen in Europa. Die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, die seit 1975 eine Sicherheitsordnung in Europa gewährleisteten, waren nur noch Makulatur. Deutschland war auf eine solche Veränderung am wenigsten vorbereitet.

Auf Deutschland lastet unveränderbar die gewaltige Schuld des Zweiten Weltkrieges, die Verpflichtung zur dauerhaften Aussöhnung – auch mit dem russischen Volk. Das darf aber nicht am Selbstverständnis eines UN-Mitglieds rütteln, Staaten, die aus imperialistischen Gründen angegriffen werden, wirksam in der Verteidigung zu unterstützen.

Das Jahr der Zeitenwende

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Zeitenwende-Rede in der Sondersitzung des Deutschen Bundestages versucht, dieses Dilemma aufzulösen, indem er von Putins Krieg sprach und ausdrücklich die wenigen russischen Menschen lobte, die mutvoll in Russland gegen den Krieg protestierten. Es sei nicht Russlands Krieg, sondern Putins Krieg. Das klang mir zu einfach und blendet den großen Unterstützerkreis Putins in Russland aus.

Ein anderer Moment der Zeitenwende-Rede hat mich lange nicht losgelassen: Die spontanen Standing Ovations, auch von großen Teilen der Opposition, als Scholz verkündete, 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Bundeswehr zu investieren. Ein beklommenes Schweigen der Abgeordneten hätte es vielleicht auch getan, dass die eigene Armee wieder gestärkt werden muss, weil eine tatsächliche Bedrohungslage erkannt wurde. Menschen sind leicht mit starken Worten zu verführen. Erst später habe ich für mich verarbeitet, dass das situativ-euphorische Bekenntnis für Freiheit und Souveränität auch mit Hilfe einer gestärkten Bundeswehr mit verantwortungsvollem Handeln einhergehen kann.

Deutschland ist langsam

Deutschland ist ein langsames Land. Das gilt für die Digitalisierung, das gilt für den Umbau der Energiewirtschaft, das gilt auch für die Umsetzung der Zeitenwende-Ankündigung. Im politischen Berlin kursiert spöttisch der Begriff „Zeitlupenwende“ für das in diesem Jahr Erreichte. Bezogen auf die Aufrüstung der Bundeswehr stimmt das zweifellos.

Als vor einem Jahr, also vor Ausbruch des Krieges, die Ministerposten der ersten Ampel-Koalition verteilt wurden, ahnte niemand, dass das Amt des Verteidigungsministers eine zentrale Rolle in dieser Legislaturperiode einnehmen wird. So konnte mit Christine Lambrecht eine parteiverdiente Genossin, die schon als Justizministerin im Kabinett Merkel kaum auf sich aufmerksam machte, ohne besondere fachliche Eignung in dieses Amt gehoben werden. Die Bundeswehr, sie half den Menschen bei Hochwasserkatastrophen, galt als unreformierbar und lästige Notwendigkeit. Die Wehretats ständig unter Soll, die gesellschaftliche Wertschätzung eher gering.

Seit zehn Monaten steht die Bundeswehr im Fokus des öffentlichen und internationalen Interesses. Lambrecht sorgte aber eher mit einem Hubschrauberflug nach Sylt für Aufmerksamkeit als mit klaren Konzepten für die Landesverteidigung oder Unterstützung der Ukraine. Das Rumgeeiere um die Frage, ob Leopard-2-Panzer an die Ukraine geliefert werden sollen oder können, ist nur ein Beispiel. Dass Olaf Scholz nibelungentreu an seiner früheren Staatssekretärin zu seiner Zeit als Finanzminister festhält, ist kein Ausweis von Führungsstärke.

Deutschland ist stark

Deutschland ist ein starkes Land: Das hat es im Umgang mit Corona bewiesen, als der Zusammenhalt funktioniert hat. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist Deutschland viel besser durch die Pandemie gekommen. Das gilt für die Versorgung von Erkrankten wie für die Unterstützung von besonders betroffenen Unternehmen und Menschen in dieser Zeit.

Und das beweist es auch jetzt im Umgang mit Krieg, Inflation und Energiekrise. Robert Habeck und Christian Lindner stehen dafür. Als sie am 8. Dezember vor einem Jahr als Wirtschafts- beziehungsweise Finanzminister vereidigt wurden, traten sie gemeinsam an, die Wirtschaft – und damit den Wohlstand Deutschlands – so umzubauen und abzusichern, dass sie nachhaltiger agiert, den Klimaschutz beachtet, marktwirtschaftliche Prinzipien bewahrt, die Schuldenlast des Staates reduziert und damit die Last für nachfolgende Generationen erträglicher gestaltet. So unterschiedlich die politischen Ausgangspositionen der beiden auch waren, man nahm ihnen ab, dass sie kompromissfähig Gemeinsames erreichen wollten.

Es wäre ein spannendes Experiment geworden; nach der Verwaltungsära Merkel hätten die beiden in ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch in ihrer Fähigkeit, Menschen zu begeistern und mitzunehmen, einen tatsächlichen Aufbruch schaffen können.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verneigt sich in Doha vor Scheich Mohammed bin Hamad Al Thani, um mit ihm über mögliche Energieimporte aus den Golf-Staaten zu sprechen.
Ein Bild mit großer Symbolkraft: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck traf am 20. März Scheich Mohammed bin Hamad Al Thani in Doha, verneigte sich tief, um mit ihm über mögliche Energieimporte aus den Golf-Staaten zu sprechen. © picture alliance/dpa

Seit dem 24. Februar 2022 ist alles nur noch Makulatur. Lindner musste in atemberaubender Geschwindigkeit neue Schulden produzieren, wie sie selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorgekommen sind. Habeck, das ist für mich eines der Bilder mit der höchsten Symbolkraft des Jahres, musste sich vor dem Handelsminister Katars, Scheich Mohammed bin Hamad Al Thani, tief verbeugen, um mithilfe von Flüssiggas-Lieferungen Deutschlands Gas-Abhängigkeit von Russland zu verringern.

Politik ist die Kunst des Machbaren. Das haben Habeck und Lindner in diesem Jahr besonders hart erfahren müssen. Sie haben diese Rolle angenommen. Aus der großen Angst, was passiert, wenn Putin den Gashahn zudreht – was natürlich passierte – ist eine gemeinsame Kraftanstrengung aus Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Gruppierungen entstanden, dem Angriffskrieg Russlands auf ein souveränes Land konsequenter als zu Beginn entgegenzutreten.

Deutschland ist solidarisch

Deutschland ist ein solidarisches Land: Als 2015 über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, drohten gesellschaftliche Verwerfungen. Die heute die Sanktionen Deutschlands gegen Russland ablehnende AfD erhielt mit ihrer konsequenten Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen viel Zuspruch. Sieben Jahre später steht die Gesellschaft deutlich geschlossener für das Eintreten von Freiheit, die Unterstützung der Ukraine und auch die Sanktionen gegenüber Russland ein.

Es ist schwierig, mitten in der größten Herausforderung der vergangenen 75 Jahre die Leistung der Bundesregierung zu bewerten. Kaum gewählt, musste sie ausschließlich im Krisenmodus agieren. Das ständige Austarieren der Außenpolitik, die richtige Form der Unterstützung für die vom Krieg unschuldig heimgesuchte Ukraine zu finden und zugleich Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Wirtschaft leistungsstark bleibt und die Menschen unter steigenden Preisen nicht zusammenbrechen, hat in dieser Form noch keine Regierung von ihr bewältigen müssen. Aus der Angst im Mai, nicht durch den Winter zu kommen, ist Zuversicht erwachsen: Die gemeinsame Kraftanstrengung kann gelingen. Die Wirtschaft ist im dritten Quartal sogar leicht gewachsen, der Höhepunkt der Inflation scheint erreicht.

Aus Angst wächst Zuversicht

Das ist eine grandiose Leistung vieler Beteiligter, nicht nur der Politik. Dass Selbstverständlichkeiten wie Wohlstand, Freiheit in all ihren Facetten eben keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern dafür immer wieder aufs Neue eingestanden werden muss, ist die wohl wichtigste Erkenntnis des Jahres 2022. Das macht die wirkliche Zeitenwende aus.

Niemand mag vorhersagen, was das Jahr 2023 bringen wird. So erging es den Menschen in der DDR auch zu Beginn des Jahres 1989. Von einem autoritären System überwacht, standen sie unglaublich mutig auf, gingen auf die Straße und traten für Freiheit und selbstbestimmtes Leben ein. Dass es am Ende eine friedliche Revolution werden würde, war nur möglich, weil im Kreml ein Verständnis für das Selbstbestimmungsrecht von Staaten und der darin lebenden Menschen bestand.

Gerade eine Generation ist das her. Das Verständnis von Putin ist ein ganz anderes. Dass er seine Anschauung mit Bomben, Raketen und Panzern in die Welt tragen kann, dafür tragen die westlichen Länder Mitverantwortung. Sie haben ihn wirtschaftlich stark gemacht, ihm einen großen Platz auf der internationalen politischen Bühne bereitet und viele Äußerungen des früheren KGB-Chefs nicht ernst nehmen wollen.

Auch deshalb haben wir eine besondere Verantwortung, den Menschen in der Ukraine beizustehen. Deutschland ist ein so starkes Land, dass es die Herausforderungen gesellschaftlich und wirtschaftlich bestehen wird. Daran müssen wir aber alle mitwirken.

Die deutschen Fußball-Nationalspielerinnen jubeln im Stadion über ihren Erfolg bei der Europameisterschaft in England.
Trotz des Krieges in der Ukraine gab es auch 2022 schöne Momente: Im Sommer etwa jubelte Deutschland mit den DFB-Frauen, die sich bei der EM bis ins Finale kämpften. © picture alliance/dpa

Auch wenn der Krieg in der Ukraine das alles überlagernde Thema in diesem zu Ende gehenden Jahr gab: Da waren auch wunderschöne Ereignisse wie die Frauen-EM im Fußball, die gemeinsamen Erlebnisse in einem Jahr ohne Corona-Lockdown und vieles andere mehr, aus dem wir Zuversicht schöpfen dürfen.

Deshalb wünschen wir Ihnen von Herzen, dass wir alle gemeinsam gut durch das Jahr 2023 kommen. Bleiben Sie gesund, treten Sie für gemeinsame Werte ein und durchleben Sie schöne Momente.

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