„Man sprach schon von Schlaraffenzeit / die Stimmen sind verstummt“, singt Heinz Rudolf Kunze in seinem neuen Song „Halt mich fest“. Und sah zuletzt in einem Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) ein Deutschland, das „auf ein Level sinken wird, dass wir nicht mal mehr uns selber helfen können“. Ein Beispiel dafür, dass der gesellschaftskritische Songwriter nicht ganz falsch liegt, sind die in den vergangenen Jahren eklatanten Probleme im Gesundheitswesen.
Die Überlebensquote beträgt nur 11 Prozent
Im Schatten der endlosen Kette von Mängel- und Fehlanzeigen bei der Bereitstellung wichtiger Medikamente – derzeit liegt beispielsweise die Versorgung mit bestimmten Penicillinen komplett brach, wie Nachfragen des RND in Apotheken ergaben – ist in Deutschland weiterhin die mangelnde Defibrillatorendichte im öffentlichen Raum ein Problem.
Das Herz eines Menschen kann jederzeit aufhören zu schlagen, ob er nun im Auto unterwegs ist, im Büroaufzug steckt oder zu Hause in der Badewanne sitzt. Nach wenigen Sekunden wird die oder der Betreffende bewusstlos, wenige Minuten nach einem Herzstillstand setzen irreversible Schäden ein. Der Sauerstoffmangel führt schließlich zum Hirntod. Dabei registriert der „Deutsche Rat für Wiederbelebung – German Resuscitation Council“ (GRC) rund 70.000 Herzstillstandsfälle außerhalb von Gesundheitseinrichtungen pro Jahr in Deutschland. Die Überlebensquote beträgt dabei nur 11 Prozent.
Dabei gilt längst die Erkenntnis, dass der Tod keine Augenblickssache ist, sondern ein Prozess und innerhalb eines schmalen Zeitfensters durchaus reversibel. Ein wichtiges Hilfsmittel sind sogenannte „automatisierte externe Defibrillatoren“ (AED), die praktisch überall installiert werden können. Sind sie schnell greifbar, steigt die Wahrscheinlichkeit des Überlebens.
Defibrillatoren kennt jeder – aus Ärzteserien im Fernsehen
Defibrillatoren hat jeder schon einmal gesehen – am wahrscheinlichsten im Fernsehen. In den vornehmlich amerikanischen Krankenhausserien sind die Profigeräte sofort zur Hand, wenn die Apparaturen bei Patient oder Patientin eine Herznulllinie anzeigen. Erst wird vom Krankenhauspersonal eine Herzdruckmassage versucht. Wird der Patient oder die Patientin auf diese Weise nicht wiederbelebt, werden zwei Pad-Elektroden auf den Brustkorb gedrückt, das Herz mehrfach über fünf bis 20 Millisekunden mit einem Elektroschock von über 1000 Volt Spannung und zehn Ampere Stromstärke bearbeitet.
Kann der Herzrhythmus so neu gestartet werden, atmen die Ärztinnen und Ärzte in „Chicago Med“ oder „Grey’s Anatomy“ für gewöhnlich erleichtert auf. Andernfalls geben sie mit tonloser Stimme den Todeszeitpunkt bekannt.
Im öffentlichen Raum stößt man nicht oft auf AED
In den deutschen Operationssälen, auf Intensivstationen, in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und in den Fahrzeugen der Rettungsdienste gehören Defibrillatoren zur festen Ausrüstung. Wie viele dagegen landesweit im öffentlichen Raum installiert sind, weiß niemand. Es gibt keine Registrierungspflicht.
In öffentlichen Gebäuden sieht man die AED für jedermann im Verbandskasten-Look (oder eins der grünen Hinweisschilder mit Herz, Blitz, Pluszeichen und einem Pfeil als Richtungsangabe) noch immer nicht allzu oft. Dabei gibt es sie schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert.
Die Defibrillatoren sind auch für Laien problemlos handhabbar
Diese Defibrillatoren sind laiensicher, niemand muss Angst haben, zu versagen oder Schaden am Hilfsbedürftigen anzurichten, wenn er unverhofft und ohne Vorkenntnisse mit so einem Gerät umgehen muss. Nach dem Öffnen gibt eine Stimme dem Ersthelfer genaue Anweisungen, was zu tun ist – Schritt für Schritt.
Und nur wenn der AED ein Kammerflimmern feststellt, gibt er den Schock auch frei. Wer als Ersthelfer tatsächlich einen AED zur Hand hat, muss trotzdem sofort den Rettungsdienst rufen, damit Profis weitere Maßnahmen ergreifen können.
Obwohl sie als große Hilfe bei der Wiederbelebung gelten, gibt es bislang in Deutschland keine Vorschrift, die etwa Betriebe oder Geschäfte dazu verpflichtet, ein solches Gerät anzuschaffen (Kosten je nach Modell: zwischen 1000 und 3500 Euro), so wird auf der Rettungswebsite Brandschutz-Zentrale.de bedauert.
Deutschland tut sich schwer mit Selbstverständlichkeiten
Immer mal wieder liest man von einer Kommune, in der dieser Sportverein oder jene Mehrzweckhalle einen Defibrillator bekommen hat. Ein eher zähes Vorwärts. Und während in ganz Europa Fernzüge mit ihren großen Zeitabständen zwischen Haltepunkten mit AED an Bord fahren, ist die Deutsche Bahn derzeit erst am Testen. Entscheidung offen. Besser also kein Kammerflimmern im IC.
Laut einem Bericht des Berliner „Tagesspiegel“ müssten für eine standardmäßige Ausrüstung öffentlicher Gebäude mit AED die Musterbauordnung und die Muster-Versammlungsstättenverordnung geändert werden. Die Bauministerkonferenz sieht keine Zuständigkeit. „Dass wir eine flächendeckende Versorgung mit Defibrillatoren nicht hinbekommen, ist ein Musterbeispiel dafür, wie schwer wir uns in Deutschland damit tun, Dinge zu ändern, obwohl sie eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten“, wird der Bundestagsabgeordnete der Grünen und frühere Unfallchirurg und Notfallmediziner Janosch Dahmen im „Tagesspiegel“ zitiert.
Fehlende Defibrillatoren, fehlendes Bewusstsein
Wo aber bei Otto Normallebensretter kein Bewusstsein darüber herrscht, dass in nächster Nähe auch sicher ein „Defi“-Kästchen hängt, wird dieser auch nicht wertvolle Zeit verstreichen lassen und auf die Suche nach einem gehen, sondern tun, was der Augenblick an manuellen Maßnahmen verlangt. Und solange die AED in Deutschland nicht so selbstverständlich sind wie Feuerlöscher, wird sich daran wohl auch nichts ändern.
Um die Überlebensquote von Herzpatientinnen und Herzpatienten zu erhöhen, soll auch die Reanimationsausbildung so früh wie möglich beginnen. Dafür plädiert der 2007 gegründete GRC, der in der Ausbildung von Kindern – so eine Mitteilung vom 17. Mai dieses Jahres – eine „Schlüsselstrategie für eine bessere Laienreanimationsquote“ sieht.
Reanimationsschulung schon im Alter von vier Jahren
„Schon im Alter von vier Jahren sind Kinder in der Lage, die grundlegenden Schritte der Wiederbelebung zu erlernen“, heißt es auf der Website des „International Liaison Committee on Resuscitation“ (Ilcor), des globalen Dachverbands der Wiederbelebungsorganisationen. Wobei es bei den Jüngsten zunächst nur um das Erkennen einer Notsituation und das Alarmieren geht und der Unterricht über eine korrekte Herzdruckmassage bei ihnen nur theoretisch erfolgen sollte.
Die nötige Kompressionstiefe von fünf bis sechs Zentimetern bei Erwachsenen kann erst ab einem Ersthelferalter von zehn bis zwölf Jahren erreicht werden. 100- bis 120-mal pro Minute muss der Brustkasten dazu mit beiden Händen eingedrückt und entlastet werden. Eine enorme Anstrengung.
Bis heute fehlt flächendeckender Unterricht in fast allen Bundesländern
Wer das nicht schafft, kann sein Wissen in einer Notsituation trotzdem an Erwachsene weitergeben, so der GRC. Überhaupt werden Kinder von dem Verein als hoch motivierte Multiplikatoren gesehen, die ihr Wissen an Freunde und Familie weitergeben. Regelmäßige Übungen von zwei Schulstunden jährlich brächten eine dauerhafte Verankerung der Kenntnisse, so der GRC. Seit Jahren tritt der Verein für die Implementierung eines verpflichtenden Reanimationsunterrichts für alle Schulkinder in Deutschland ein – „spätestens ab der siebten Klasse“.
Die Kultusministerkonferenz hatte denn auch schon 2014 entsprechenden Unterricht für Schülerinnen und Schüler beschlossen. Breit umgesetzt ist das neun Jahre später – wie der GRC im Vorjahr durch eine Umfrage erfuhr – aber nur in Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg.
RND
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