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Hendrik Wüst und das Booster-Desaster: „Mich dünkt, der Alte spricht im Fieber“
Meinung
Mit dem Corona-Erlass, Booster-Impfungen schon nach vier Wochen zu erlauben, hat Ministerpräsident Wüst Chaos verbreitet. Seine Erklärungsversuche machen alles noch schlimmer. Ein Kommentar.
Bisher kannte ich so etwas nur aus dem Deutschunterricht. Da gab es diese kleinen dünnen Reclam-Heftchen. Wenn es galt, herauszufinden, was denn der Herr Kafka mit seinen unverständlichen Versen oder der Herr Dürrenmatt mit seinem Besuch der alten Dame wohl eigentlich gemeint haben könnte, half Reclam mit seinen Erklärfibeln. Die gab es nur über die Werke von Menschen, die mit ihren Werken in den Olymp der Dichtkunst eingetreten waren.
Jetzt hat NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst es geschafft, zu diesen Koryphäen der Dichtkunst aufzuschließen. Am Dienstag (14. Dezember) kündigte er die Herausgabe eines neuen Booster-Erlasses an, der die „kommunikativen Fragezeichen“ in einem nur einen Tag zuvor veröffentlichten Booster-Erlass beseitigen solle. Also quasi eine Erklärfibel für ein selbst geschriebenes Werk – wenn auch nicht aus dem Reclam-Verlag, sondern aus dem Hause Wüst.
Diese Erklärfibel kam dann am Mittwoch. In ihr ruderte Wüst praktisch komplett zurück und erklärte die vier Wochen plötzlich zur absoluten Ausnahme. Stattdessen ist wieder von 4- und 5-Monate-Fristen die Rede.
„Kein Dichter, sondern Chef-Manager“
Eine vernichtendere Kritik über das Chaos, das Wüst zuvor selbst angerichtet hatte, ist nur schwer vorstellbar. Schließlich ist Wüst – zumindest hauptberuflich – kein Dichter, sondern Chef-Manager in einer der schlimmsten Krisen unseres Landes. Von ihm werden keine verschwurbelten, hochgeistigen Ergüsse erwartet, sondern klare Ansagen. Im besten Fall auch noch solche, die wirklich sinnvoll sind.
Weder das eine noch das andere ist Hendrik Wüst beim Boostern gelungen. Der Erlass, der mit seiner Unterschrift am Montagnachmittag auf den Weg geschickt wurde, sagt nichts anderes als: Man kann die dritte Corona-Schutzimpfung auch erhalten, wenn die zweite Impfung erst vier Wochen zurück liegt.
Nun muss man Hendrik Wüst zu Gute halten, dass er erst ein paar Wochen im Amt ist. Da macht man Fehler. Aber gerade das Hickhack um das Boostern hat wie kaum ein anderes Thema die öffentliche Diskussion der vergangenen Wochen bestimmt. Es herrschte heillose Verwirrung: Ab wann sollte man boostern? Nach sechs Monaten, oder nach fünf? Vielleicht schon nach vier?
„Von alledem nichts mitbekommen?“
Daneben tobte die Diskussion, wer denn eigentlich die Millionen Impfungen in die Arme spritzen soll. Jetzt auch Zahnärzte, Apotheker und Tierärzte. Gleichzeitig prasselten geradezu dramatische Appelle auf die Menschen nieder, sich möglichst rasch boostern zu lassen, während in vielen Orten die Impfzentren noch gar nicht wieder hochgefahren sind, andernorts sich lange Schlangen bildeten. Hat Hendrik Wüst von alledem wirklich gar nichts mitbekommen?
Die Folge des Chaos: Höchst verunsicherte, verwirrte, verängstigte und zunehmend auch verärgerte Menschen, die nur auf eines warten: auf eine klare Ansage, was denn jetzt gilt. Genau das muss ein Ministerpräsident leisten und genau bei dieser Aufgabe hat Hendrik Wüst kläglich versagt.
Statt für Klarheit und Ruhe zu sorgen, hat er noch größeres Chaos angerichtet. Warum hat er nicht vor dem ersten Erlass all die gefragt, die sich mit dem Thema auskennen? So meldeten sich diese am Tag nach dem Chaos-Booster-Erlass voller Entsetzen zu Wort. Kassenärzte, Immunologen, Praktiker aus den Gesundheitsämtern und vielen anderen Bereichen erklärten, wenn auch in höflichere Worte verpackt, was sie vom Wüst-Erlass halten: „„Mich dünkt, der Alte spricht im Fieber“, um es mit einem leicht abgewandelten Zitat aus Goethes Faust zu sagen.
Die Vier-Wochen-Untergrenze
Eine Vier-Wochen-Untergrenze mag politisch gewollt sein, medizinisch ist sie bestenfalls nutzlos, möglicherweise sogar schädlich, wie Immunologen sagen. Warum hat Wüst sie nicht gefragt? Warum hat er offenbar keinen Gedanken darauf verschwendet, was eine solche Vier-Wochen-Grenze wohl in den Artpraxen auslösen wird? Und hat er vielleicht mal den neuen Gesundheits-Minister gefragt, ob genug Impfstoff für seinen Vier-Wochen-Plan vorhanden ist? Offenbar nicht, denn den gibt es nicht, wie seit Dienstagabend bekannt ist.
Wenn Wüst dann in seiner späten Rette-was-zu-retten-ist-Erklärung sagt, man habe schon „die ganze Zeit“ niemanden abgewiesen, der ein paar Tage oder Wochen vor der eigentlich gesetzten Frist zwischen zweiter und dritter Impfung gekommen sei, dann ist das wahrscheinlich noch schlimmer. Dann räumt der Ministerpräsident unseres Landes damit ein, auch nicht den leisesten Schimmer von dem zu haben, was in seinem Land gerade so vor sich geht, denn: Es gibt seit Wochen ungezählte Berichte über empörte Menschen, denen eine Booster-Impfung verweigert wurde, nur weil sie einen einzigen Tag zu früh gekommen waren.
Ja, Hendrik Wüst ist noch frisch im Amt. Aber wenn er nicht ganz schnell ganz viel dazulernt, dürfte er einer der Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte des Landes werden. In fünf Monaten muss er sich zur Wahl stellen. Solche Fehler wie beim Vier-Wochen-Boostern darf er sich mit Sicherheit kein weiteres Mal leisten.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
