Hauptsache Fußball

Portrait

Es ist der 22. Dezember 2000. Die Sonne knallt. Es sind 28 Grad – im Schatten. Dieser Tag bleibt dem kleinen zehnjährigen ghanaischen Schuljungen Marvin immer im Gedächtnis. Es ist der Tag, als seine Familie mit ihm in ein Flugzeug steigt, um nach Deutschland zu fliegen.

NRW

von Tom Schachtsiek und Marwin Flüs

, 01.07.2016, 17:01 Uhr / Lesedauer: 4 min
Marvin Mainoo-Boakye

Marvin Mainoo-Boakye

Marvin ist wie immer unterwegs – bei über 30 Grad in der ghanaischen Sonne. Nur weiß er nicht genau wie lange schon, und auch nicht, wie lange noch. „Das Zeitgefühl ist irgendwann weg “, und es kommt erst nach sieben Kilometern Fußweg langsam wieder. Zu Lachen gibt es für ihn nichts. Dann kniet er nämlich in der Ecke des Klassenzimmers, die Arme nach oben gestreckt - die Bestrafung für fehlendes Zeitgefühl. „Die Schule ging um 8 Uhr los, ich kam meist zu spät. Da gab’s dann immer Ärger.“ Seine Privatschule ist streng, nicht selten gibt es mit dem Stock einen auf den Hintern. Für Zuspätkommer, Klassenclowns und Draufgänger – auf Marvin trifft alles zu.

Innenstadt-Nord

Schön, ist etwas anderes. Würde sich nicht gerade ein Vollbartträger auf der Sitzbank einen Joint durchziehen, könnte man hier eine Prise Döner mit einem Schlückchen Benzin erahnen. Innenstadt-Nord in Dortmund halt. Hier wohnt er. „Aber hier bin ich nicht unterwegs“, sagt er schnell, während er sich umsieht „wenn, dann eher im Kreuzviertel oder so.“ Seine Studentenbude hat mit dem Haus, zu dem sie gehört, nichts zu tun.

Sobald die Tür zu ist, ist es sauber, aufgeräumt und hell. Ganz anders, als da draußen. Marvin sitzt auf einem hellbraunen Cajón und kippelt mit der Kistentrommel nach hinten. Mitten im engen Wohnzimmer. Der Lehramtsstudent schaut auf sein Smartphone, die Uhr im Blick. „In Deutschland ist Pünktlichkeit nicht zu unterschätzen, das hab ich hier gelernt“, mahnt er. Wenn er schon da sitzt, kann er es nicht lassen. Mit seinen langen Fingern trommelt er auf dem Schlaginstrument los. Mit dem rechten Fuß wippt er. Seine kurze, dunkelblaue Hose verrät, dass er selten, sehr selten den „Leg-Day“ hat ausfallen lassen. Die Waden erinnern an Tennisbälle, an Fußballerbeine.

Lieber Fußball

Gerade von der Schule zuhause angekommen, geht er wieder los. Geld verdienen. „In Deutschland nennt man das wohl Kinderarbeit“, sagt er und zuckt mit den Schultern. 

Sein kleiner Kopf trägt einen Behälter mit 20 kleinen Tüten, die mit Wasser gefüllt sind. In Ghana ist das wertvoll. Nicht jeder hat Zugang zum wichtigsten Rohstoff der Welt. Marvin und seine Familie schon. Eine Geldquelle. „Da bin ich dann immer so vier, fünf Stunden durch die Gegend gelaufen und musste das Wasser loswerden.“, erinnert er sich. Sonst gibt es Ärger von der Tante. Bei ihr und bei seiner Oma wächst er auf, lebt in einem großen Haus gemeinsam mit zwanzig Familienmitgliedern. Vor dem Haushalt drückt er sich aber regelmäßig. „So hab ich angefangen Fußball zu spielen“, und dabei regelmäßig die Zeit vergessen.

„Mittelmäßig“, er guckt aus dem Fenster auf den Balkon, „für ghanaische Verhältnisse war das bei uns so mittelmäßig.“ Sein Vater hat für die Familie mitgesorgt, aus Europa. Früh ist er nach Deutschland gekommen, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. „Er wollte studieren, ist aber gescheitert, er hat die Sprache nicht richtig gelernt.“, erklärt Marvin. Sein Blick wandert zum Boden. Als LKW-Fahrer hat sein Vater dann Geld verdient und die Familie unterstützt. Daher ging es ihnen nicht schlecht. „Wenn man in ein neues Land kommt, muss man auch was dafür tun. Sprache ist wichtig. Man muss aus sich herauskommen und offen sein für andere Leute.“ Marvin macht es besser.

Alles neu

Es ist der 22. Dezember 2000. Die Sonne knallt. Es sind 28 Grad – im Schatten. Dieser Tag bleibt dem kleinen zehnjährigen ghanaischen Schuljungen immer im Gedächtnis. Vor ihm steht ein riesiges Flugzeug. Sein Vater nimmt ihn an die Hand. Er dreht sich nicht mehr um. „Ghana vermisse ich nicht wirklich“, stellt er fest. „Ich hab mich auf Deutschland gefreut, weil das Leben in Ghana nicht so schön war. Man musste als Kind viel machen, und hatte in Ghana das Bild von Deutschland als Paradies. Ich wollte das einfach. Ich hatte Bock auf Deutschland.“

Düsseldorf, Flughafen. „Es war so kalt“, er schüttelt mit dem Kopf. Marvin Mainoo-Boakye landet mit seinem Vater in Deutschland. Von 28 auf 0 Grad innerhalb weniger Stunden. „Ich habe die ganze Fahrt nach Dortmund im Zug gepennt, mir war einfach so kalt.“ Erst eine Woche später verlässt Marvin das Haus. Eingemummelt in Klamotten, die sein Vater neu gekauft hatte. Es war der Start in ein neues Leben. „Ich hatte Glück, dass mein Vater mich ausgerechnet von Ghana nach Dortmund geholt hat. Ich fühlte mich sofort wohl.“ Anfangs hat er natürlich nichts verstanden. „Meine Antwort auf jeden Satz war ‘ja, ja, ja, ja‘“, lacht Marvin. Sein Vater meldet ihn schnell in der Schule an. „Ich war in einer Förderklasse, der 3e.“ Eine Klasse für Thailänder, Türken, Kurden, also mit allen, die neu sind. „Das war ganz cool, weil wir gezwungen waren, Deutsch zu sprechen.“ Schon nach drei Monaten kann er sich schon überraschend gut auf Deutsch verständigen. 

Auf dem Fußallplatz kommt er richtig an. Hier ist er in seinem Element, mit dem Ball am Fuß. „Ich hab da Freunde kennengelernt und war viel unterwegs mit der Mannschaft.“, sagt er und trommelt wieder. Dass er in Ghana lieber gekickt hat, als der Oma im Haushalt zu helfen, bemerkt auch der große BVB. Er hat Talent, bekommt ein Angebot, darf mitspielen – aber es passt noch nicht ganz. . „Die Sprache konnte ich zwar, aber mir fehlten wichtige Fußballbegriffe. Vielleicht wäre dann mehr möglich gewesen“, schwelgt Marvin in Erinnerungen und sieht dabei aus dem Fenster. Für ihn aber kein Grund aufzugeben. Er ist ein Macher. Einer, der nie aufgibt.

Fußballtrainer der unter 14-Jährigen

Heute ist er 25 Jahre alt und Fußballtrainer. „Ich möchte etwas von dem zurückgeben, was mir damals so sehr geholfen hat“, sagt Marvin. So ist er doch noch bei Borussia Dortmund gelandet. Als Co-Trainer der unter 14-Jährigen formt er zukünftige Bundesligaspieler, fährt mit ihnen zu Turnieren in der ganzen Welt. Er strahlt, wenn er davon erzählt. 

Marvin steht an der Seitenlinie. Sie zocken. „Das ist ganz locker hier, wir haben einfach Spaß“, sagt Marvin. Er steht an der Seitenlinie, gestikuliert, versucht mit Händen und Füßen zu erklären, was sie tun sollen. „Sie sollen versuchen, Deutsch zu sprechen, das ist das Wichtigste. Was ein Holzfuß ist, wissen sie ja inzwischen.“ Im Team sind Syrer und Afghanen, Türken und Kurden – ein Flüchtlingsteam. Sie spielen lange, haben Spaß. Das Flutlicht geht aus. Marvin lacht. Es bleibt hell.

Schlagworte: