Gelungene Wege aus den Angsträumen
Angsträume in NRW
Eine dunkle Unterführung, ein verwinkeltes Gebäude oder ein Bahnhof – es sind öffentliche Orte, und doch fühlen sich Menschen hier oft unwohl. Jeder kennt Angsträume in seiner näheren Umgebung. Und doch hat unsere Angst „etwas Irrationales“, sagen Wissenschaftler. Sie ist viel größer, als eigentlich nötig. Hier gibt es Fakten gegen die Angst und Wege aus den Angsträumen.

Unübersichtliche Unterführungen - wie diese in Haltern - gehören zu den Angsträumen Nummer eins. © Thime-Dietel
Udo Diederich hat in seinem Leben viele Angsträume betreten. Dienstlich. Diederich war 41 Jahre lang Polizist, erst bei der Landes- später viele Jahre bei der Bundespolizei. Vor zwei Jahren, mittlerweile im Ruhestand, kam ihm die Idee, eine App zu entwickeln, mit denen Nutzer Angsträume melden können. Der Ex-Polizist möchte damit den öffentlichen Raum sicherer machen. Diederich sagt: „Jeder Mensch bemerkt doch die fehlende Präsenz von Polizeibeamten auf den Straßen.“ Die großen Bahnhöfe seien voller Menschen ohne Reiseabsichten. Frauen könnten sich an bestimmten Orten nicht mehr sicher bewegen. Das könne doch niemand ernsthaft abstreiten.
Für den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul (CDU) ist die Sache klar: „Angsträume in unseren Städten beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl der Menschen besonders stark.“ Steht die Debatte über sogenannte Angsträume zu Recht wieder auf der Tagesordnung? Oder ist das nur populistisches Polit-Geschäft?
Land sieht Problem mit No-Go-Areas
Die schwarz-gelbe Landesregierung behauptet jedenfalls, dass es in Nordrhein-Westfalen ein gewachsenes Problem mit No-Go-Areas gebe. Bei der Verwendung des Begriffs gehe man von der „Wahrnehmung der Menschen vor Ort“ aus. Eine No-Go-Area sei ein Ort, an dem Menschen entweder erhebliche Angst und Unsicherheit empfinden oder den Menschen aus Angst gar nicht mehr betreten. Dementsprechend sei jede No-Go-Area auch ein Angstraum.
Diederich und der NRW-Innenminister sind sich offenkundig einig. Wir haben in unserer Facebook-Gemeinschaft gefragt an welchen Orten sich die Menschen unwohl fühlen oder sie sogar Angst haben. Es kamen Hunderte Kommentare zusammen - in Groß- wie in Kleinstädten, im Ruhrgebiet, im Vest und im Münsterland.

Tatsächlich gehören Bahnhöfe und das Bahnhofsumfeld zu den meist genannten Orten. Allein in Dortmund kommen weit mehr als 150 Kommentare zusammen, die uns Angsträume in der Stadt nennen.

Angsträume in Dortmund: Die rot-markierten Stellen wurden mehrfach genannt. © Grafik Mühe
Es gibt aber auch einige Menschen, die halten unsere Umfrage für falsch, die Debatte für unsinnig, wenn nicht gar gefährlich:

Es ist nicht unsere Absicht, Ängste zu schüren oder gar Panik zu verbreiten. Wir wollen wissen - gibt es Orte in unseren Städten, an denen Menschen sich fürchten. Und wenn ja, warum? Wir haben mit einem Psychiater, einem Kriminologen, einer Stadtplanerin und der Polizei gesprochen, gefragt ob und wie man über das Thema Angsträume berichten kann, ohne reißerisch zu sein. Eine sachliche Debatte über ein ernsthaftes Thema, das wir nicht Populisten überlassen wollen.
Angstforscher: Kriminalstatistik statt Gefühle
Der Psychiater und Angstforscher Borwin Bandelow hält gar nichts davon, bei Angsträumen auf die Wahrnehmung der Menschen vor Ort auszugehen, wie die Landesregierung es tut.

Der Göttinger Angstforscher und Psychiater Borwin Bandelow: Angsträume nach Kriminalitätsststatistik bewerten - nicht nach Gefühl. © dpa
„Die Definition von Angstraum sollte – wenn man sie überhaupt braucht – auf der Kriminalstatistik beruhen und nicht auf subjektiven Gefühlen“, sagt Bandelow. Ansonsten könnten diese Aussagen auch erhebliche Nachteile für bestimmte Menschen bringen. Zum Beispiel für Händler, deren Straße kurzerhand zum Angstraum erklärt werde. Und in der folglich weniger Leute einkaufen würden.
Das Polizeigesetz kennt keine Angsträume, auch dort will man Stigmatisierung vermeiden. Eine Umfrage unter fünf Polizeibehörden in Dortmund, Unna, Recklinghausen, Coesfeld und Borken ergab keinen einzigen offiziellen Angstraum. „Das ist ein komplexes Thema, das subjektiv immer unterschiedlich wahrgenommen wird, von Männern anders als von Frauen, von jungen Leuten anders als von älteren“, sagt Andreas Wilming-Weber Polizeisprecher in Recklinghausen. „Das Empfinden der Bevölkerung ist für uns sehr wichtig, wir nehmen ihre Sorgen und Ängste sehr ernst. Die Bezirksbeamten vor Ort sind die ersten Ansprechpartner, um mit den Bürgern in Dialog zu treten.“
Kontrolle auch ohne Verdacht auf Straftat
Die Behörden kennen aber sehr wohl eine ganze Reihe von aktuellen oder ehemaligen Kriminalitätsschwerpunkten in Dortmund, Recklinghausen, Marl, Schwerte und Gronau. Definiert die Polizei einen Ort aufgrund statistischer Auffälligkeiten als solchen, darf sie dort auch ohne Verdacht auf eine Straftat Personen kontrollieren. In Dortmund ist das der Bereich der erweiterten Innenstadt und Nordstadt. „Die Polizei geht in Dortmund entschlossen und erfolgreich gegen Angsträume vor, in denen sich Menschen unwohl oder unsicher fühlen“, sagt Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange.
Das Verzwickte: „Angsträume sind oft Orte, an denen nicht unbedingt viele Straftaten stattfinden“, sagt der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. Umgekehrt gebe es auch Kriminalitätsschwerpunkte, die keine Angsträume sind. Deshalb ist es so schwierig, Angsträume zu bestimmen. Sie basieren auf subjektivem Empfinden.
Kettenreaktion bereitet Körper auf Kampf vor
Angst ist ein mächtiges Gefühl. Angst löst binnen einer Millisekunde eine Kettenreaktion im menschlichen Körper aus: Blut wird in die Arme gepumpt, damit man besser kämpfen kann. Blut schießt in die Beine, damit man schneller flüchten kann. Jeder hat woanders Angst, mancher im Dunkeln, mancher fürchtet Jugendgruppen, wieder andere das einsame Abteil in der Bahn. Frauen haben andere Ängste als Männer.

Der ehemalige Bundespolizist Udo Diederich hatte die Idee zu einer App, die Angstträume in Nordrhein-Westfalen aufdecken soll. © dpa
Geht es nach Udo Diederich, sollen die Nutzer seiner App in solchen Momenten per Knopfdruck auf dem Smartphone einen Angstraum melden können. Standort-Daten, Uhrzeit, auf Wunsch später auch weitere Infos sollen so analysiert werden und den Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Diederichs Idee: Melden viele Menschen dieselben Daten, müsse man sich den Ort anschauen, vielleicht auch zu einer bestimmten Uhrzeit. Daraus könnte man Landkarten der örtlichen Angsträume machen.
"Wir leben hier nicht in der Bronx"
Doch die Idee kommt nicht überall gut an. Der Städte- und Gemeindebund hat bereits 2016 bei den Kommunen die Werbetrommel für die App gerührt. Bei der Stadt Willich empörte sich der SPD-Fraktionsvorsitzende im Stadtrat, Bernd-Dieter Röhrscheid: „Der gute Ruf unserer Stadt steht auf dem Spiel. Wir leben hier nicht in der Bronx.“ Diederich erinnert sich: „Es hieß, wir würden mit der App die Büchse der Pandora öffnen. Ich glaube, viele Kommunen haben Angst davor, von eigenen Angsträumen zu erfahren.“
Eine anonyme Datensammlung sei nicht repräsentativ sagt Malte Woesmann, Sprecher der Stadt Selm. Stattdessen könnten Bürger ihre Beschwerden direkt beim Amt für öffentliche Sicherheit vorbringen. Auch Mechthild Kammert von der Gemeinde Nordkirchen hält die Idee für „nicht zielführend“.

Der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes: „Angst vor Kriminalität ist etwas Irrationales“. © RUB
Kriminologen wissen, dass die Kriminalitätsfurcht und die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, sehr weit auseinander klaffen.
Wer wissen will, ob wirklich an jeder Straßenecke eine Gefahr lauert oder ob diese nur in unseren Köpfen existiert, der findet einige Antworten auf diese Frage in einer Langzeitstudie der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Die Forscher um den Kriminologen Thomas Feltes befragen seit 1975 Bochumer zu ihren Erfahrungen mit Kriminalität und Polizei sowie zu ihren Ängsten. Das Ergebnis der RUB-Befragung aus dem Jahr 2016: Obwohl nur wenige Bochumer selbst Opfer einer Straftat wurden, haben viele Angst davor, Opfer zu werden. So waren zum Beispiel zwar nur 0,3 Prozent Opfer eines Raubüberfalls geworden, mehr als 19 Prozent der Befragten hielten es aber für wahrscheinlich, dass sie in den kommenden zwölf Monaten Opfer eines solchen Überfalls werden.
Eigene Wohnung ist der unsicherste Ort
„Angst vor Kriminalität ist etwas Irrationales“, sagt Feltes. „Menschen fühlen sich in ihrer eigenen Wohnung am sichersten, obwohl das der unsicherste Ort überhaupt ist.“ In den eigenen vier Wänden werde man viel häufiger Opfer als auf Straßen, Wegen und Plätzen. Drei von vier Körperverletzungen seien auf familiäre Gewalt zurückzuführen. Auch sexueller Missbrauch finde häufig innerhalb der Familie statt, nicht außerhalb. Und rund 9.000 Menschen sterben jedes Jahr bei Haushaltsunfällen – dreimal mehr als im Straßenverkehr.
Kriminologe Thomas Feltes sagt, um Angsträume zu beseitigen, gebe es gute Erfahrungen mit der kommunalen Kriminalprävention. Dabei setzen sich beispielsweise Akteure der Stadt, Polizei und der Händlerschaft zusammen, lokalisieren Angsträume und vereinbaren Lösungen. „Oft sind es ganz banale Dinge, wie eine bessere Beleuchtung oder eine gestutzte Hecke, die Angsträume beseitigen“, sagt Feltes. Und manchmal müsse auch mehr Polizei eingesetzt werden. „Aber nicht zu viel und nicht überall“, warnt Feltes. Eine übermäßige Polizeipräsenz schaffe eher zusätzliche Verunsicherung – und verstärke das Angstgefühl.
Was also tun? Hier sind fünf Beispiel für Wege aus den Angsträumen:
Mutige Menschen gegen Angsträume
Die Nachtwanderer in Stadtlohn sind so ein Beispiel. Vor zehn Jahren hatten ganze Serien von nächtlichen Schlägereien und Pöbeleien Jugendliche und ihre Eltern in Angst und Schrecken versetzt. 2011 entstand als Reaktion die Idee der „Nachtwanderer“. Eltern und andere Erwachsene sollten nachts Präsenz an neuralgischen Punkten in der Stadt zeigen: „Wir sind keine Ordnungshüter – und schon gar keine Bürgerwehr“, betont Birgit Bühs. „Wir wollen nicht maßregeln und keine Aufpasser sein. Wir wollen als Gesprächspartner eine gute Atmosphäre schaffen und bieten Hilfe an.“ Zurzeit allerdings sind die Nachtwanderer nicht mehr aktiv – und das aus einem erfreulichen Grund. „Es ist so ruhig geworden, dass es keine Notwendigkeit mehr gibt“, erklärt Birgit Bühs. Damals wie heute , so Birgit Bühs, sei es wichtig gewesen das Thema „Angsträume“ nicht mit Panikmache anzugehen.

Mehr Licht kann – wie hier in der Josef-Voigt-Gasse am Haus Hakenfort in Stadtlohn – helfen, subjektiven Angsträumen etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen. © Stefan Grothues
Bauen gegen Angst
In Haltern war die Verwaltung präventiv zum Beispiel beim Projekt „See schlägt Wellen“ tätig. Die Gleis-Unterführung zur Seestadthalle sei bewusst weiträumiger gestaltet worden, damit sie besser einsehbar ist. „Die andere Unterführung, an der Recklinghäuser Straße, entspricht aber natürlich nicht mehr den heutigen Standards“, sagt Georg Bockey von der Stadt Haltern. Deshalb sei sie ausdrücklich ins sogenannte Isek-Projekt einbezogen (integriertes Stadtentwicklungskonzept). Man überlege, wie man diese Stelle besser gestalten kann – auch weil südlich des Bahnhofs ein neuer Park-and-Ride-Parkplatz entstehen soll.
Harte Hand gegen Angst
Die Polizei erkannte Mitte Mai 2017 den Bereich um den Bahnhof in Schwerte als Kriminalitätsschwerpunkt. Durch Kontrollen der Polizei und den Einsatz von Streetworkern der Stadt konnte die Anzahl an Straftaten im definierten Bereich deutlich und anhaltend gesenkt werden. Mit Ablauf des Monats September 2017 habe sich die Lage dort nach Angaben der Kreispolizeibehörde Unna beruhigt.

Die "Nord-West-Passage" in Dortmund: Ein Beispiel, wie mit Licht, Kunst und baulichen Veränderungen ein Angstraum entschärft werden kann. © Barz
Licht und Kunst gegen Angst
Mit dem Projekt „Eingänge in die Nordstadt“ will die Stadt Dortmund bis 2023 die zentralen Übergänge von der City Richtung Nordstadt freundlicher gestalten – zum Beispiel die Bahnunterführung Bornstraße, Burgholzstraße und Unionstraße. „Unterführungen sind immer schwierig“, sagt Susanne Linnebach vom Amt für Wohnen und Stadterneuerung. Die Brinkhoffstraße neben dem Dortmunder U mit der langen Unterführung wurde früher immer wieder als Angstraum genannt. Durch durchgehende Beleuchtung, die Schließung der Seitenbereiche und künstlerische Gestaltung nach einem Wettbewerb wurde der Bereich aufgewertet.
Eine App als Wächter für den Weg nach Hause
Eine App namens „WayGuard“ hat inzwischen mehr als 100.000 Nutzer. Das Prinzip des virtuellen Begleiters des Axa-Versicherungskonzerns und der Kölner Polizei ist denkbar einfach: Wer Angst auf dem Heimweg hat, kann mit einem „WayGuard“-Mitarbeiter telefonieren. Die App liefert dabei die GPS-Daten an die WayGuard-Zentrale, damit der Mitarbeiter den Nutzer auf einer Straßenkarte auf dem Computerbildschirm bis nach Hause verfolgen kann. Die App ist besonders bei jungen Frauen beliebt: 78 Prozent der Nutzer sind weiblich und zwischen 18 und 30 Jahre alt.
Angstforscher Borwin Bandelow sagt: „Integration und eine Null-Toleranz-Politik zum Beispiel gegenüber Jugendbanden und Straftätern sind die besten Möglichkeiten, Angsträume zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.“
Und Udo Diederich will weiter für seine Angstraum-App kämpfen. Er hält sie keineswegs für populistisch, sondern für hilfreich. Derzeit befinde sie sich noch in der Testphase. Auch er wisse nicht, ob seine App wirklich den gewünschten Erfolg bringen wird. Ausprobieren will er es aber unbedingt. Diedrich sagt, es sei seine Art, auch im Ruhestand noch Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen.
Co-Autoren: Susanne Riese, Stefan Grothues, Kevin Kindel, Jessica Will