Fußball-Poet und Avantgardist: Ror Wolf wird 75
Mainz (dpa) - Der Mainzer Schriftsteller Ror Wolf hat mit dem Fußball abgeschlossen. Seine Werke leben jedoch weiter und für sein Publikum bleibt er der, der er immer war: «Fußball-Poet» wird Wolf von seinen Lesern genannt. Er gilt als einer der ersten Intellektuellen, die sich mit dem runden Leder beschäftigten.
Mit Gedichten und Toncollagen aus dem Stadion erzählte er über Jahrzehnte Geschichten. Geschichten, die so eigentümlich sind wie das Leben. Doch auf Fußball will Ror Wolf nicht reduziert werden. Nun zerrupft er seine Tagebücher. Am 29. Juni wird Ror Wolf 75 Jahre alt.
Seit zwei Jahren räumt der todkranke Schriftsteller auf: Selbst sein Tonarchiv musste seine Wohnung mit herrlichem Blick über Mainz verlassen. Wolf hat es dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überschrieben. «Die Zeit ist gekommen, mich von vielem zu trennen», sagt Wolf, wenn er ganze Seiten aus seinen persönlichen Aufzeichnungen vernichtet: «Tagebücher sind Kübel für den täglichen Seelenmüll», sagt der an Krebs erkrankte Schriftsteller, dessen Publikum anspruchsvolle Literatur gewohnt ist. Er habe viel zu erzählen, aber alles wolle er seinen Lesern nicht zumuten, erläutert er sein Vorgehen.
Wolf hat in mehr als 30 Hörspielen und zahlreichen Gedichten nach eigenen Worten emotionalisieren wollen. Seine Werke sind mitunter humoristisch und grotesk, immer aber gegen jedes Schnelllebige und jeden kurz gedachten Zeitgeist. «Ich hatte nie die hohe Auflage im Auge», sagt er. Er hat nie Gefallen gefunden am massenhaften Produzieren für den Konsum. Seine Werke sollen stattdessen über Jahrzehnte gelesen werden. Seine literarische Leistung besteht darin, Leichtigkeit und Schwermut mit Skurrilität und Spaß raffiniert zu verbinden. Genau dafür wurde Wolf 2004 mit dem Kasseler Literaturpreis ausgezeichnet.
Den Sprachraum «Fußball» entdeckte der sportliche Wolf als Frankfurter Student bei der Weltmeisterschaft 1954. Mit seinen Kommilitonen habe er den Radioreportagen gelauscht: «Da war alles echt. Nichts Aufgesetztes, nichts Niedliches wie zur Fußballweltmeisterschaft 2006.» Von den stimmungsvollen Eindrücken habe er sich einfangen lassen. Von nun an besuchte Wolf die Fußballspiele von Eintracht Frankfurt und montierte die eingefangenen Töne als Redakteur beim Hessischen Rundfunk.
Wolf war 40 Jahre seines Lebens unterwegs. Er wurde am 29. Juni 1932 in Saalfeld (Thüringen) geboren. Nach dem Abitur war er zwei Jahre Betonbauer, bevor er 1953 die DDR verließ, da seine Bewerbung zum Studium abgelehnt wurde. Danach kam er ins Notaufnahmelager Sandbostel in Niedersachsen und hielt sich später in Stuttgart mit verschiedenen Arbeiten über Wasser. Schließlich studierte er in Hamburg und Frankfurt Literaturwissenschaft, Soziologie sowie Philosophie. Seine Laufbahn als Autor begann Wolf 1958 als Feuilletonredakteur einer Studentenzeitung. Noch heute hängen in seinem Mainzer Arbeitszimmer Fotos seiner Vorbilder Franz Kafka und Robert Walser.
Bezug hat Wolf auch zu Hans Magnus Enzensberger, der ihn als einer von fünf neuen deutschen Autoren in seiner Anthologie «Vorzeichen» der Öffentlichkeit präsentierte. Wolfs erstes Buch war der Roman «Fortsetzung des Berichts» (1964). Dort wie bei den anderen Werken setzte er sich spielerisch und abgründig zugleich mit der Wirklichkeit auseinander. Unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer veröffentlichte er eine «Enzyklopädie für unerschrockene Leser». Seine späten Werke haben surrealistische und fantastische Einflüsse. Dazu kommen Prägungen aus Abenteuer- und Kriminalliteratur sowie erotische Motive.
Wolf war vierzig Jahre in Deutschland, der Schweiz und London sowie den USA unterwegs, bis er sich nach 34 Umzügen in Mainz niederließ, wo er bis heute mit seiner Frau lebt. «Schreiben kann man überall - in der U-Bahn oder Kneipe, auf der Parkbank oder zu Hause», sagt der Dichter. Mainz findet er als Stadt sympathisch. Tatsächlich schreibt Wolf seit 1990 in seinem Mainzer Arbeitszimmer.
Wolf erhielt den Staatspreis des Landes Rheinland-Pfalz (1997), den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2003) und die Eugen Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Im vergangenen Jahr erhielt er den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Seine Fußballhörspiele wurden vergangenes Jahr mit dem weltweit höchstdotierten Hörspielpreis ausgezeichnet. Seit einigen Jahren arbeitet der Autor Kay Sokolowsky an einer Biografie, die er nach Einschätzung von Wolf zu einem geeigneten Zeitpunkt veröffentlichen wird.