Es sind nur sechs Buchstaben: Heimat

Portrait

Bilder aus ihrer schlesischen Heimat hängen im Wohnzimmer von Gertraud Gardemin nicht, nur Fotos ihres verstorbenen Ehemanns. Ohnehin würde sie heute einen anderen Ort als ihre Heimat beschreiben: Bergkamen. Und dennoch sind die Erinnerungen an Schlesien nicht verblasst.

NRW

von Sonja Lelittka und Jan Kawelke

, 01.07.2016, 15:36 Uhr / Lesedauer: 4 min
Gertraud Gardemin

Gertraud Gardemin

Natürlich würde sie auf das Wort kommen. Orchideenknolle mit fünf Buchstaben, in der Mitte ein E. Verflixt, den Begriff hatte sie doch schon mal gelesen. Der Blick schweift zur Fensterbank. Vom Sims schweigen sie Orchideen an. Gertraud Gardemin sitzt in der grünen Garnitur. Im Bilderrahmen darüber thront der tote Ehemann. Günter, das Familienoberhaupt, umrahmt von Fotos aller Kinder, Enkel und Urenkel.  Familie und Heimat – die Konstanten ihrer Friedensformel. Für die sie in ihrem Leben die Variablen fand.

Bilder von ihrer Heimat hängen dort nicht. Die hat die 80-Jährige alle im Kopf. Lauban –  niederschlesische Dorfidylle. Die Hinterhauswohnung, die Fabrik zum Fenster hinaus, ein Zimmer mit zwei Kammern. „Es war sehr karg. Aber Mutti verstand es immer, es gemütlich zu machen“.  Der Vater fährt Kohlen, die Mutter arbeitet in einer Taschentuchfabrik.  „Damals hieß es: ‚Lauban putzt der Welt die Nase‘“. Bei Schnupfen, beim Niesen, beim Winken zum Abschied: 95 Prozent aller deutschen Taschentücher werden vor dem Zweiten Weltkrieg in Lauban gefertigt.

Waagerecht: 6 Buchstaben – Landschaft, traut: Idylle

„Samstags wurde gebohnert, bis die Holzdielen glänzten. Mutti hat sich Bürsten unter die Füße geschnallt und zur Musik aus dem Volksempfänger getanzt“. Während '42 aus dem Staatsradio noch Heile-Welt-Propaganda plärrt, sterben in Stalingrad schon tausende deutsche Soldaten. Der Vater kämpft am Nordkap. „Und trotzdem: Da war der Krieg für uns noch weit entfernt!“

Ein Handy klingelt in die Erinnerung. Das Gebimmel der Gegenwart reißt Gardemin aus der Vergangenheit. „Wer ruft an?“ will sie sofort wissen. Ihre Enkelin lacht. „Typisch Oma. Sie war schon immer neugierig!“ Gardemin ist die Älteste von drei Geschwistern. Abends im Doppelbett, die Kleinen schlafen am Rand, sabbeln Tochter und Mutter bis tief in die Nacht. „Wenn sie im Kino war, hat sie mir den ganzen Film erzählt.“ 

'44 klopft der Krieg an. Die Schule wird ein Lazarett – auf den Korridoren und in den Klassenzimmern liegen die verwundeten Soldaten. Gardemin hält die Hände verhakt, der eine Daumen mahlt den anderen. „Und dann, im Februar '45, marschierten die Russen ein“. An einem Samstag, der Schnee liegt meterhoch, wird die Stadt geräumt. „Maximal 14 Tage müssen wir euch evakuieren, hieß es. Wir waren fest überzeugt, wir würden zurückkehren.“  Ihr Leben hastig verpackt in zusammengenähten Tischdecken, flieht die Familie mit einem kleinen Rollwagen. „Die Rädchen waren so klein“. Gardemin formt einen apfelsinengroßen Kreis mit Daumen und Zeigefinger. „Mutti schnallte bei der Flucht gleich drei Hüte auf den Kopf – die waren ihr lieb und teuer“.

Umsichtig greift sie auch nach dem Pinkelpott. „Der ging im Zug rundrum!“ . Gardemin, gerade acht Jahre alt, packt in ihren Kinderranzen eine Flasche Lebertran und ihre Lieblingspuppe Heidi. 14 Jahre später wird sie ihre erste Tochter nach ihr benennen. 

Inzwischen hat Gardemin vier Kinder, sieben Enkel und vier Urenkel. Zwei von ihnen stolpern über den grünen Teppich. Gerade hat Gardemin für sie Bratkartoffeln gemacht. Der Geruch hängt noch in den Spitzengardinen. „Oma ist immer da und unterstützt uns“, sagt Karuna Jaensch. Familienzusammenhalt als oberste Maxime – das war schon damals so. Als Bomben vom Himmel fallen, flüchtet Gardemin über Zittau zur Tante ins vermeintlich sichere Vogtland. 

Senkrecht, 9 Buchstaben – Verbündete 2. Weltkrieg: Alliierte

Doch der Frieden der letzten Kriegstage ist trügerisch. 14 Angriffe fliegen die Alliierten auf Plauen. 4914 Tonnen Bomben fallen auf das Städtchen im heutigen Sachsen. Verschanzt im Felsenkeller harren Gardemin und ihre Familie aus. Das Phosphor-Feuer raubt den Versteckten die Luft, treibt sie auf die Straßen. Gardemin flüchtet sich in den Park.  Und blickt auf ein Blumenbeet aus Brandbomben, die tödlichen Stäbe in die Erde gestielt. „Dieses Bild werde ich nie vergessen“.  

Wenige Wochen später unterzeichnet Generaloberst Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos die bedingungslose Kapitulation aller Streitkräfte. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Und die Grenzen geschlossen. „Das war ein Schock! Wir wollten doch unbedingt zurück!“. Wochenlang tingeln Gardemin und ihre Familie von Ortschaft zu Ortschaft. Niemand will sie haben. „Dabei waren wir doch Deutsche! Wir haben uns fremd gefühlt im eigenen Land“. 

Die 80-Jährige wird laut, wenn sie darüber spricht. „Die Bürokratie ist es heute noch, die die Flüchtlingssituation so unmenschlich und zäh macht“. Ihre persönliche Odyssee zwischen Lebensmittelkarten, Grenzübergängen und Sondergenehmigungen endet schließlich, als die Nachricht durchdringt: Vati in Westfalen! Ein Jahr nach Kriegsende wird er aus englischer Gefangenschaft entlassen. Und landet in Bergkamen. 

Waagerecht: 9 Buchstaben – Taillenunterrock: Petticoat

Dem Ort, dem sie heute den Begriff „Heimat“ zuschreibt. Wo sie als 17-Jährige beim Schützenfest Günter kennenlernt, ihren Ehemann.  Wo sie als 20-Jährige heiratet. Der Polterabend mit Petticoat, Rock ’n‘ Roll und Schallplatten. Wo sie vier Kinder zur Welt bringt. „Damals hieß es:  Wer stillt, kann nicht in Umstände kommen. Von wegen! Aber was sollste machen? Kannst du ja nicht zurückschicken!“ Lachend zuckt sie mit den Schultern. Wo ihr Vater im Rosenfeld einen Herzinfarkt erleidet. „Wir haben immer gesagt: Du wirst noch in deinen Stiefeln sterben.“ 

Gardemin hat nicht das Gefühl, dass das Leben ihr etwas schulden würde, seit ihre normale Welt kaputtgebombt wurde. Vor zwei Jahren stattete sie Lauban einen Besuch ab. „Sehr schön haben die Polen alles wieder aufgebaut“. Zurück wollte sie trotzdem nie. Alleine schon wegen der Sprache. „Polnisch versteh ich doch nicht. Rauf und runter geht das in meinen Ohren!“ 

Für die Kreuzworträtselkästen ihrer Lebensphilosophie hat Gardemin die Lösung gefunden: Miteinander reden. „Sonst gibt es Missverständnisse, Neid und Überheblichkeit. Und die führen zu Krieg“, verkündet die 80-Jährige. Wie zankende Kinder würde sie auch Staatschef an einen Tisch zwingen, um gemeinsam das Problem aus der Welt zu schaffen. 

Gertraud Gardemin kneift die Augen zu Schlitzen zusammen. Orchideenknolle mit fünf Buchstaben in der Mitte ein E. Sie lässt den Kugelschreiber über das fludderige Papier kreisen. „SALEP, wusst ich’s doch!“, triumphiert sie dann. Schon wieder eine Lösung gefunden.  

Schlagworte: