Ein Mörder spricht über seine Zeit hinter Gittern

Besuch in der JVA Schwerte

An einem geschenkten Tag, da könnte man ein Gespräch mit einem Menschen führen, für den ein einziger Augenblick alles verändert hat. Zum Beispiel mit Paul*, der seine Frau ermordet hat. Ein Besuch in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Schwerte.

SCHWERTE

, 26.02.2016, 11:20 Uhr / Lesedauer: 6 min

Es waren Bruchteile von Sekunden, in denen Paul (56) sein Recht auf Freiheit verwirkt hat. Paul hat seine Frau erschossen. Es war eine „Verzweiflungstat“, wie er sagt. Seit fünf Jahren sitzt Paul in Haft, seit drei Jahren in der Langstrafen-Abteilung der JVA Schwerte. Und noch heute durchlebt er immer wieder diesen einen Moment.

Paul, der „ein ganz normales Leben“ führt, bis er seine Frau erschießt, stellt sich nach der Tat, die alles verändert hat, sofort. Er kommt in Münster in Untersuchungshaft. Als man ihn in eine Viermannzelle sperrt, zusammen mit Drogenabhängigen, denkt er: „Ich bin im falschen Film.“ Und dann klebt man ihm auch noch einen roten Punkt an die Zellentür. Weil Paul als selbstmordgefährdet eingestuft wird. Wie alle Kapitalverbrecher. „Es war fürchterlich“, erinnert sich der Häftling. Eine vollkommen andere Welt. Drei Tage lang isst er nichts. Steht vollkommen neben sich. Dann ist der Hunger zu groß.

„Ich war umgeben von Verbrechern“

Irgendwann ist Paul soweit, dass er sich in der „Freistunde“ auf den Hof traut. „Ich war umgeben von Verbrechern“, erinnert er sich, „ich, der ich ja kein Verbrecher war“. Was ihm Halt gibt, sind die Gefängnismitarbeiter: „Die kümmerten sich, machten sich ehrlich Sorgen um uns.“ Und dann ist da noch ein anderer Häftling, der Paul an die Hand nimmt. „Er hat mir den Knast erklärt. Er hat mir gesagt, dass ich nicht jedem eine Zigarette abgeben muss. Dass ich nein sagen kann.“

Der Prozess ist kurz. Paul weiß, was auf ihn zukommt. Und auch wenn er sich eine milde Strafe wünscht - so erzählt er es - verbietet er seinem Anwalt, Zeugen zu befragen, von denen er denkt, dass sie seine tote Frau belasten würden. „Am schlimmsten war, mit den Details meiner Tat konfrontiert zu werden“, sagt Paul. Das sei unerträglich gewesen. Am zweiten Prozesstag schon steht das Urteil fest: lebenslang. „Ich habe es widerstandslos angenommen“, sagt Paul.

Wann Paul das Gefängnis verlassen kann, ist ungewiss

Ein Jahr und vier Monate nach seiner Verhaftung kommt Paul für vier Monate nach Hagen: Während des sogenannten Einweisungsverfahrens entscheidet sich dort, in welche „Mutteranstalt“ er kommt. Die Entscheidung fällt auf die JVA Schwerte. Wie lange Paul dort bleiben muss, ist ungewiss. „Lebenslang“, das beutet mindestens 15 Jahre. Es kann aber auch 20 Jahre oder mehr bedeuten. Je nachdem, wie sich Paul im Gefängnis verhält.

„Man hat keinen festen Endpunkt“, sagt Paul. „Kein Datum, auf das man hinarbeiten kann.“ Und das sei für viele Häftlinge schwer erträglich. Aber es sorge auch dafür, dass es in der Abteilung recht ruhig sei, wenig Konflikte gebe. Weil jeder die Konsequenzen vor Augen habe, die schlechte Manieren mit sich bringen. Wenn ein neuer in die JVA kommt, der zehn Jahre absitzen muss, denkt sich Paul: „Schon wieder so ‘ne Wochenendstrafe.“ Und dann seufzt er manchmal.

 

 

Die Tagesabläufe in der JVA sind klar strukturiert, und Paul findet das gut, sagt er. Weil Arbeit und Struktur einen davor schützen, sich in dunklen Gedanken zu verlieren. Nur am Wochenende „ist die Bude zu“, bis auf eine „Freistunde“. Der schlimmste Teil des Tages ist immer die Einschlafphase, sagt Paul. Weil die Vergangenheit dazu neigt, ihre Krallen auszufahren, wenn man im Bett liegt.

Aber auch am Tag könne einen die Dunkelheit aus heiterem Himmel überkommen. „Es ist, als ob jemand mit der Keule auf dich einschlägt, und dann bist du nur noch ein Häufchen Elend.“ Im Knast, ergänzt Paul, dramatisiere man auch alles. Zum Beispiel, wenn ein Elternteil krank ist. „Weil man nicht eingreifen kann. Weil man sich hilflos fühlt.“ Und dann sind da noch „die besonderen Tage“. Geburtstage. Oder Weihnachten. „Diese Tage sind immer hart.“

 „Ich habe einen riesigen Fehler gemacht“ 

Heute sagt Paul: „Ich habe einen riesigen Fehler gemacht. Und ich würde vieles anders machen, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte.“ In der Therapie lerne man sich selbst kennen, sagt der Häftling - mit all seinen Fehlern, die man so gerne übersieht.

„Ich würde meine berufliche Karriere anders angehen, ich würde die vielen Fehler, die ich in meinem Beziehungsleben gemacht habe, kein zweites Mal machen. Und ich würde einfach mehr reden. Nicht zu kommunizieren, das ist die Ursache, warum ganz viel Elend passiert.“ Warum Paul zum Beispiel seine Frau erschossen hat. „Ich möchte und muss die Tat aufarbeiten.“

„Ich denke mir oft, der Tag hat zu wenige Stunden“

In der Therapie hat Paul auch erfahren, dass er sich die Tage in seinem „Draußenleben“ immer viel zu voll gepackt hat. Dass er zu oft unter Stress stand. Dass er einer Vielzahl von Vereinen nur beigetreten ist, um sich von seinen Problemen abzulenken. Und er realisiert, dass er noch immer dazu neigt, zu viel zu wollen und zu viel zu tun. „Ich denke mir oft, der Tag hat zu wenige Stunden“, sagt er. „Ich bin durchgehend beschäftigt, mit der Arbeit, mit meiner Knastband, mit Kontaktpflege.“

Was Paul in der Therapie über sich erfährt, schockiert ihn oft, sagt er. „Und es macht mich unendlich traurig.“ Der Therapeut halte einem keinen Spiegel vor - das mache man irgendwann selbst.  „Und das hilft.“ Weil man Antworten auf eine entscheidende Frage finde. Auf die Frage: „Wie konnte es zu der Tat kommen?“ In seinem „Draußenleben“, sagt Paul, wäre er niemals zu einem Psychologen gegangen: „Hätte mir jemand den Gang zu einem Psychologen vorgeschlagen, ich hätte ihm gesagt: ‚Du hast doch einen an der Waffel. Ich bin doch nicht krank.‘ Ich habe fürchterlich unterschätzt, was eine Therapie bewirken kann - wenn man sich darauf einlässt.“ Kein Gespräch ist verlorene Zeit.

 

Eine unbelegte Zelle in der JVA Schwerte (Archivbild)

 

Ein konkretes Ergebnis von Pauls Therapie: Er will sich künftig mehr Zeit für sich nehmen. Mehr Zeit allein in seiner „Bude“ verbringen, auch mal wieder ein Buch lesen. „Weil ich immer das Gefühl habe: Ich komme zu kurz“, sagt Paul. „Ich will nicht mehr fremdbestimmt leben, sondern bewusst meine eigenen Entscheidungen treffen.“ Draußen sei er oft in der Masse einsam gewesen. Heute sei er nie einsam, auch wenn da mal niemand ist, der ihm Gesellschaft leistet.

Wenn man Paul einen Tag Freiheit schenken würde, würde er zehn Stunden durch den Wald spazieren, sagt er. Denn er liebt die Natur. Schön fände er, wenn seine Eltern und sein Bruder ihn einen Teil des Weges begleiten würden. Und dass so ein Familienspaziergang eines Tages Realität wird, ist nicht unwahrscheinlich. Denn Pauls Familie besucht ihn oft im Gefängnis, sagt er. Und auch mit Freunden von ihm, die einst auch Freunde der Frau waren, die er erschossen hat, steht er in Briefkontakt. Es sind 30 Menschen, mit denen der Häftling regelmäßig schreibt, sagt er - darunter nur drei Männer, Vater und Bruder eingerechnet.

„Ich war wohl ein ziemlich netter Kerl da draußen“ 

Dass so viele Freunde Teil seines Lebens geblieben sind, nachdem es ein anderes geworden ist, erstaunt Paul noch heute. Und er kann es sich nur so erklären: „Ich kann kein Arschloch gewesen sein. Ich war wohl ein ziemlich netter Kerl da draußen. Meistens zumindest.“ In die alte Heimat, ins Münsterland fahren, würde Paul an einem geschenkten Tag allerdings nicht. „Die Fahrt würde viel zu viel Zeit kosten, vor allem, weil ich ungerne im Auto sitze“, sagt er.

Wenn man einen Tag außerhalb der Gefängnismauern geschenkt bekäme, müsse man jede Sekunde voll auskosten, bevor man wieder „nach Hause“ zurückkehre. Weil jede Sekunde, in der keine Mauern um einen herum emporwüchsen, wertvoll sei.

Wonach sich Paul sehnt, ist frisch gebackenes Brot

Nach sechs bis acht Jahren Haft wird Paul unter Aufsicht Ausflüge machen dürfen, wenn er sich im Gefängnis nichts zu Schulden kommen lässt. Darauf freut er sich jetzt schon. Und er sagt: „Wonach man sich am meisten sehnt, sind selten abgedrehte Sachen. In meinem Fall zum Beispiel ist es vor allem frisch gebackenes Brot.“

Zeit, das werde einem im Gefängnis enorm bewusst, ist relativ, sagt Paul. „Man denkt sich am Anfang, dass 15 Jahre eine unendlich lange Zeit sind. Und jetzt bin ich fünf Jahre hinter Gittern und frage mich, wo die Zeit geblieben ist.“ Ein schlechter Tag voller Flashbacks könne sich unendlich lang anfühlen. „Aber rückblickend gingen die ersten Jahre schnell vorbei.“

Für Paul ist die Zeit im Gefängnis eine „gute Zeit“ 

Paul geht sogar so weit zu sagen, dass die Zeit im Gefängnis eine gute Zeit ist. Weil vieles in seinem „Draußenleben“ ohne diese Zwangspause einfach immer weiter falsch gelaufen wäre. In der JVA Schwerte sei nichts so schlimm, wie man es sich ausmale - solange man nicht permanent bockig sei und Hilfe verweigere, was dann dazu führe, dass ein Wächter die Zellentür hinter einem verschließt.

Paul kann die Zeit nicht zurückdrehen. „Es ist nun mal so, wie es ist.“ Und damit habe er sich abgefunden. Dass er kein Verbrecher ist, denkt Paul heute nicht mehr. Aber er denkt viel an die Vergangenheit. Und an die Zukunft. Er hat sich dafür entschieden, sich nicht aufzugeben. Und er arbeitet darauf hin, eines Tages wieder ein freier Mann zu sein. „Ich gehe nahtlos vom Knast in die Rente“, sagt Paul. „Und auch wenn der Schritt in die Freiheit noch lange hin ist - man plant.“

„Ich werde hier drinnen nicht weltfremd“

Dass er sich draußen nicht zurechtfinden könnte, das befürchtet er nicht. „Ich halte mich für clever genug, um wieder am normalen Leben teilnehmen zu können“, sagt er. „Ich werde hier drinnen nicht weltfremd.“ Schließlich habe er Freunde, die ihm viel von der „Draußenwelt“ erzählen, lese Tageszeitung, schaue Nachrichten im Fernsehen und höre Radio. „Nur dass ich das Radio manchmal ausstellen muss, weil mit so vielen Liedern Erinnerungen hochkommen“, sagt Paul. „Und ein modernes Handy, das wird für mich im ersten Moment gewiss ein Buch mit sieben Siegeln sein. Aber man wird ja vorbereitet und nicht ins kalte Wasser geschmissen.“

Der Moment, in dem Paul seine Frau erschossen hat, gehört unauslöschbar zu seinem Leben. Weil man die Zeit eben nicht zurückdrehen kann. Und Paul findet das Urteil „noch immer okay“. Er hat erfahren, wie gnadenlos die Zeit beizeiten ist. Und wie ein einziger Augenblick ein Leben verändern kann.

*Name geändert

 

Unser Projekt "24 Stunden - 24 Facetten der Zeit"

Dieser Artikel ist Teil unseres großen Multimedia-Projekts "24 Stunden - 24 Facetten der Zeit" zum Schalttag, zum 29. Februar 2016. Unser Tipp: Nehmen Sie sich Zeit für diese Zeit-Reise.

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