Eigentlich ist alles schön

Portrait

Bevor Dagmar Rowell mit ihrer Schwester in den Zug stieg, drehte sich die 15-Jährige noch einmal zu den Menschen um, mit denen sie ihre Kindheit verbrachte. Mit Tränen in den Augen winkten sie ihr hinterher. Dann ging es für die Rumänin nach Deutschland.

NRW

von Samina Ahmed und Jule Opp

, 01.07.2016, 14:45 Uhr / Lesedauer: 3 min
Dagmar Rowell

Dagmar Rowell

Man wird die zwei vermissen. Eine Band spielt Blasmusik – nur für sie. Es wird getanzt, gegessen und gelacht. Und trotzdem liegt eine Menge Wehmut in der Luft. Die beiden Mädchen werden von ganz Heltau zum Zug begleitet. Sie werden verabschiedet. Langsam realisieren die beiden, dass sie viele ihrer Familie und Freunde nie wieder sehen werden. Sie weinen. Eine von ihnen ist Dagmar Rowell. Bevor sie mit ihrer Schwester in den Zug steigt, dreht sich die 15-Jährige noch einmal zu den Menschen um, mit denen sie ihre Kindheit verbrachte. Mit Tränen in den Augen winken sie ihnen hinterher. Es geht nach Deutschland. 

Langsam läuft Dagmar Rowell in Richtung des Aufenthaltsraumes. Ihre Hände klammern sich an die Griffe ihres Rollators, der quietschend über den Linoleumboden rollt. Im Körbchen liegen Andenken: eine kleine Bastelei ihrer Enkel und zwei alte Bücher. „Hier drin sind ganz viele Erinnerungen an meinen Geburtsort“, sagt sie und setzt sich vorsichtig in den gepolsterten Holzstuhl. Sie sitzt entspannt am Tisch, eines der Bücher in der Hand, die Beine übereinander geschlagen. Seit vier Monaten wohnt die 74-Jährige im Seniorenzentrum. „Hier ist mittlerweile meine dritte Heimat. Ich fühle mich wohl“, freut sich Dagmar. Ihre Mundwinkel gehen nach oben.

„Am Anfang war es für sie auch nicht leicht“, sagt Wohnbereichsleiterin Martina Westbrock. „Gerade wegen ihrer Demenz ist es schwer, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen.“ Einmal musste sie sogar von der Polizei gesucht und zurückgebracht werden, dabei wollte sie bloß spazieren gehen. Jetzt darf sie nur noch in Begleitung nach draußen. „Ich finde es schön hier“, sagt die schlanke Seniorin. Sie trägt ein hellblaues T-Shirt und eine blaue Jeans. Sie freut sich darüber, dass es in ihrer neuen Unterkunft in Hattingen alles gibt, was man im Alltag braucht: einen Arzt, einen Friseur, Fußpflege und gutes Essen. „Am liebsten esse ich kleine Schnitzel!“ erzählt sie fröhlich. Dass es im Seniorenheim auch Probleme gibt, erwähnt sie kaum. „Schade, dass man hier auf Begleitung warten muss, wenn man spazieren will“, bemerkt sie. Auch mit ihrer Zimmergenossin ist sie nicht ganz zufrieden. „Sie hängt an mir, wie eine Klette“, erzählt sie lachend. Aber Dagmar kann mit ihrer Situation gut leben. „Man passt sich halt an“, sagt sie.

Vergessen, verdrängen, erinnern

„Heltau“ steht in altdeutscher Schrift auf dem vergilbten Buch, das die geborene Rumänin bei sich hat. Es ist der Name des Ortes in Siebenbürgen, in dem Dagmar die ersten 15 Jahre ihres Lebens verbrachte. „Das heißt so wegen der sieben Burgen“, scherzt sie. Im Jahre 1204 wurde die Stadt in Rumänien von Siebenbürger Sachsen gegründet und jahrhundertelang bewohnt. Mehr als die Hälfte der Einwohnerzahl Heltaus bestand auch in Dagmars Kindheit noch aus Deutschen. Sie öffnet das Buch und fährt mit ihren Händen über das alte Papier. Auf jeder Seite klebt ein schwarz-weiß-Foto. „Ja, ich glaube das war unsere Kirche“, sagt sie ruhig und schaut auf das Bild. Früher ist sie fast jeden Sonntag dort gewesen und hat die Gottesdienste genossen, in denen sie so gern gebetet und gesungen hat. Dann sagt sie nichts mehr. Dagmar schaut aus dem Fenster ins Grüne. „Es war schön dort“, sagt sie schließlich.

„Wir haben im Haus unserer Eltern gewohnt.“ Doch ihr  Leben in Siebenbürgen ist nicht so unbeschwert wie Dagmar es in Erinnerung hat. Ihre Schwester Gerlinde weiß noch, welche Probleme es damals gab. „Durch den Krieg haben wir unsere Eltern schon früh aus den Augen verloren“, berichtet sie. Ihr Vater hat deutsche Soldaten zur Front gefahren und ihre Mutter „hat man von der Straße weggenommen und als Arbeitskraft für die Deutschen nach Russland geholt. Ich weiß, ganz am Anfang, als meine Eltern dann weg waren, wollte uns da keiner haben, die wollten uns auch ins Heim stecken“, erinnert sich Gerlinde. Aber sie haben Glück. Gemeinsam mit vier Cousinen wachsen sie bei ihrem Onkel und seiner Frau auf. „Ich hab mich da immer gefühlt wie das fünfte Rad am Wagen. Trotzdem waren sie sehr nett, aber das war schwer nach dem Krieg, denn es gab kaum etwas zu essen, genau wie in Deutschland auch.“ Ob Dagmar sich an diese schwierigen Umstände nicht erinnern kann oder ob sie es einfach nicht will, weiß ihre Schwester nicht. Dagmars Finger, die mit goldenen und silbernen Ringen geschmückt sind, spielen mit dem blauen Band des Fotoalbums auf ihrem Schoß. „Ich hatte da alles was ich brauchte, so wie hier auch. Es war einfach schön“, sagt sie wieder. 

Getrennt, gefunden, vereint

Nach Jahren der Trennung finden sich die Eltern schließlich durch einen Zufall an einem Bahnhof in der DDR wieder und beschließen, sich nicht mehr aus den Augen zu lassen. Da der Vater jedoch nicht nach Rumänien zurück darf, beschließt das Paar, sich erst einmal in Österreich niederzulassen, und zieht später nach Essen. Als die Töchter ihre Eltern endlich kennen lernen können, sind sie bereits 15 und 18 Jahre alt. „Es gab in Deutschland keine größeren Schwierigkeiten für uns“, wiederholt Dagmar. „Wir hatten sofort Arbeit. Nur meine Freunde habe ich sehr vermisst. Aber es war schön.“ 

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