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Diskussion um Wiederholung des kompletten Corona-Schuljahrs für alle
Coronavirus
Die Situation an Schulen im Land ist verheerend. Die Einstellung des Präsenzunterrichts hat eine neue Diskussion entfacht: Soll das Schuljahr komplett gestrichen werden und alle wiederholen es?
Es klingt auf den ersten Blick geradezu revolutionär. Bereits im vergangenen Jahr habe der Unterrichtsstoff aufgrund der Corona-Pandemie weder im Umfang noch in der Tiefe so vermittelt werden können, wie das hätte sein müssen, sagen diejenigen, die eine Wiederholung des laufenden Schuljahrs für alle Schülerinnen und Schüler fordern.
In diesem neuen Jahr setze sich das Fiasko fort und es sei nicht absehbar, wann es wieder regulären Präsenzunterricht in den Schulen gebe. Deshalb sei es am besten, wenn das laufende Schuljahr ab August von allen Schülerinnen und Schülern wiederholt würde, so lautet die Argumentation. Und die findet zunehmend Anhänger.
Wochenlang kein regulärer Unterricht
„Den Vorschlag, das gesamte Jahr zu wiederholen, sehen wir durchaus positiv“, sagte Dieter Cohnen von der Landeselternschaft der Gymnasien vor einigen Tagen dem WDR. In der Tat werde das Thema diskutiert, sagt auch Karl-Heinz Kahlen im Gespräch mit unserer Redaktion. Wie Cohnen arbeitet Kahlen im Vorstand der Landeselternschaft für Gymnasien mit. Er selbst sei zwar kein Freund der „Alle-Wiederholen-Idee“, aber dass Handlungsbedarf bestehe, sei offenkundig.
„Im vergangen Jahr sind acht Wochen regulärer Unterricht ausgefallen, in diesem Jahr sind es schon fünf und es ist völlig offen, wie viel weitere Wochen noch folgen. Jetzt ist ja schon von einem Lockdown bis Ostern die Rede“, sagt Kahlen, der kein gutes Haar am Krisenmanagement des nordrhein-westfälischen Schulministeriums lässt. Seit Mai versuche man, mit dem Ministerium über die Notwendigkeit eines „Lückenschlusses“ zu reden, bisher ohne Erfolg, sagt Kahlen.
Kein Konzept für Sicherung der Lernerfolge
„Das wird uns in den nächsten Jahren auf die Füße fallen“, sagt er. Schließlich werde irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem wieder normaler Unterricht stattfindet. Dann gebe es neuen Stoff, der auf dem Stoff aufbaue, der im Jahrgang zuvor vermittelt werden sollte.
„Was aber, wenn das gar nicht richtig erfolgt ist? Bis heute gibt es beispielsweise aus Düsseldorf keine Antwort auf die Frage, wie eigentlich der im Distanzunterricht vermittelte Stoff gesichert werden könne“, sagt Kahlen und meint damit: Wie können die Lehrkräfte überprüfen, ob die Schülerinnen und Schüler den im Distanzunterricht angesprochenen Stoff wirklich verstanden haben und auch anwenden können? Im Präsenzunterricht sei das einfach und geschehe praktisch in jeder Stunde, spätestens einmal in der Woche, aber im Distanzunterricht?
Er sei dafür, dass Schülerinnen und Schüler beziehungsweise die Eltern selbst entscheiden können, ob sie eine Klasse wiederholen. Im vergangenen Schuljahr habe es hier zwar auch Möglichkeiten gegeben, aber damals habe so ein Schritt noch in Absprache mit der Schule erfolgen müssen. Das könne aber problematisch werden, etwa wenn ein durchaus guter Schüler das Abi zwar auch ohne Wiederholung bestehe, aber einen schlechteren NC einfahre und damit sein Wunsch-Studium nicht antreten könne.
Die Folgen für die Abiturienten
Er sei sicher, sagt Kahlen, dass bereits bei den diesjährigen Abiprüfungen die Corona-Lücken offenkundig würden. Und beim Abiturjahrgang 2022 werde es aus jetziger Sicht nicht besser sein. Dass man die Lücken allein etwa durch eine Verkürzung der Sommerferien schließen könne, glaubt er nicht. Hinzu komme, dass er eine Ferienverkürzung für nicht durchsetzbar halte. Wenn man im Sommer wieder reisen könne, werde der Druck etwa der Touristikindustrie so groß sein, dass auch wieder gereist werde.
Die Diskussion um eine Wiederholung des kompletten Schuljahrs für alle wird übrigens nicht nur in Nordrhein-Westfalen geführt. In Neckarsbischofsheim in Baden-Württemberg hat Simone Hafner, Elternvertreterin eines Gymnasiums, Mutter zweier schulpflichtiger Kinder und selbst Grundschullehrerin, eine entsprechende Petition an das Land Baden-Württemberg gestartet. Mit ihr will sie erreichen, dass sich der Landtag mit dem Thema beschäftigt.
Die Argumente einer Mutter und Lehrerin
Das Hauptargument formuliert Simone Hafner so: „Was die Kinder sich selbst zu erarbeiten versuchen, oder mit aller Anstrengung von Elternseite her zu vermitteln versucht wird, reicht bei weitem nicht aus, um diese lange Zeit eines nicht-regulären Unterrichts auch nur annähernd aufzufangen. Dazu kommen genug Familien, die aus sozialen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen ihre Kinder im Bereich Bildung überhaupt nicht unterstützen können.“ Deshalb müssten alle Klassen das Schuljahr wiederholen, sagt sie.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Diskussion in den nächsten Wochen erheblich an Fahrt aufnimmt, sollte der Lockdown für die Schulen auch über den 31. Januar hinaus verlängert werden.
Das Schulministerium winkt ab und verweist auf Distanzunterricht
Das NRW-Schulministerium verwies auf Anfrage unserer Redaktion darauf, dass nach einem etwas holprigen Start in dieser Woche der Distanzunterricht gut angelaufen sei. Im Übrigen sei der Distanzunterricht per Verordnung in diesem Schuljahr dem Präsenzunterricht gleichgestellt und könne entsprechend bewertet werden.
Ferner heißt es in der Stellungnahme des Ministeriums: „Bund und Land unterstützen darüber hinaus bei der Ausstattung von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern mit digitalen Endgeräten; außerdem machen das Schulministerium und die Qualitäts- und Unterstützungsagentur (...) umfangreiche Unterstützungsangebote zur Organisation und Gestaltung des Distanzunterrichts.“
Vor diesem Hintergrund sei es für die Landesregierung keine Option, grundsätzlich alle Schülerinnen und Schüler das Schuljahr wiederholen zu lassen: „Der Vorschlag ist weder zielführend noch gerecht.“
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
