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Deutschland und die verheerenden Folgen eines Atomkriegs oder Atomunfalls in der Ukraine
Ukraine-Krieg
Die Angst vor einem Atomkrieg wächst. Die Sorge vor einer Kernschmelze in einem ukrainischen Atomkraftwerk steigt. Wie gut ist Deutschland vorbereitet? Die Antworten sind erschreckend.
Jahrzehntelang war ein Atomkrieg in Europa absolut unvorstellbar. Die Zeichen standen auf Abrüstung, Entspannung und Frieden durch Kooperation. Diese Zeit ist vorbei.
Spätestens mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die Lage innerhalb weniger Wochen dramatisch geändert. Plötzlich ist immer öfter von der Gefahr eines Atomkriegs die Rede. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht davon, Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Sergej Lawrow ebenso wie der Grüne Anton Hofreiter und der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter.
„Gegen einen Atomkrieg gibt es keinen Schutz“
Wie aber ist Deutschland auf ein solches Szenario vorbereitet? Und wie kann man sich überhaupt schützen? Wir haben Experten diese Fragen gestellt und die Antworten sind, um es ganz vorsichtig zu formulieren, absolut erschreckend.
„Gegen einen Atomkrieg gibt es keinen Schutz“, antwortete Dr. Lars Pohlmeier auf unsere Fragen. Pohlmeier ist gemeinsam mit Dr. Angelika Claußen Vorsitzender der deutschen Sektion der Friedensorganisation IPPNW. Das ist die Abkürzung für „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“, zu Deutsch: „Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“.
Für Pohlmeier steht fest: „Unsere Assoziation mit den Bildern von Hiroschima und Nagasaki sind für heutige Verhältnisse irreführend. Schon damals wurden 94 Prozent der medizinischen Infrastruktur sofort zerstört. Helferinnen und Helfer konnten nicht helfen. Die heutigen atomaren Waffensysteme haben eine vielfache Zerstörungskraft dieser ,Steinzeit‘-Atombomben von Hiroschima und Nagasaki. Die einzige Überlebenschance bei Atomwaffen ist, diese nicht einzusetzen.“
„Ich selbst würde einen solchen Angriff nicht überleben wollen“
Würden gleichwohl Atomwaffen eingesetzt, habe das apokalyptische Folgen: „Die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes wären neben der massiven radioaktiven Belastung mit Langzeitverseuchung riesiger Landschaften in Europa die absolute Zerstörung durch mehrere 1.000 Grad heiße Feuer, Windstürme und Druckwellen unfassbarer Stärke. Hinzu kommen globale Klimafolgen, schon im Falle eines regional begrenzten Atomkriegs“, so Pohlmeier.
Für ihn steht fest: „Ich selbst würde einen solchen Angriff nicht überleben wollen, da es die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr geben würde. Die Geschichte Europas könnte innerhalb weniger Stunden für immer ausgelöscht sein.“
Auch was den Schutz der Zivilbevölkerung angeht, zerstört Pohlmeier jede Illusion: „Zu suggerieren, es gebe gegen ein solches unbeschreibliche, nukleares Inferno medizinischen Schutz, ist geradezu obszön.“ Es gebe schlicht keinen Schutz.
Die große Gefahr eines absolut tödlichen Missverständnisses
Aus Sicht der „Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs“ wird laut Pohlmeier die Gefahr unterschätzt, „wie schnell sich die Dynamik des Krieges verselbstständigen kann. Die größte Gefahr geht unseres Erachtens nicht von einem willentlich durchgeführten Einsatz von Atomwaffen durch eine bestimmte Person aus. Vielmehr besteht, in dieser psychologisch schwierigen Situation, die Gefahr eines durch einen Unfall oder ein Missverständnis bedingten Atomwaffeneinsatzes.“
In der Vergangenheit habe es bereits verschiedene Beinahe-Unfälle gegeben. Die habe man bisher aufgrund des entspannten Klimas zwischen den Staaten rechtzeitig als Fehlalarme identifizieren können. Jetzt aber sehe sich Russland bereits im Krieg mit der NATO. Daher müsse man konstatieren: „Das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes ist extrem hoch. Die Folgen mit unvorstellbarer Zerstörung können mit Worten nicht adäquat beschrieben werden.“ Und Deutschland sei mit den in Rheinland-Pfalz stationierten US-Atomwaffen ein potentielles Ziel im Falle eines russischen Angriffs.
2007 kam das Aus für öffentliche Schutzräume
Dass Deutschland seit Jahrzehnten nicht nur keine neuen Schutzräume mehr für den Fall eines Krieges gebaut, sondern im Gegenteil die vorhandenen abgebrochen beziehungsweise anderweitig genutzt hat, bestätigt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). „In Folge der Friedensdividende in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, nach Ende des kalten Kriegs, wurde das öffentliche Schutzbaukonzept nicht fortgesetzt“, heißt es auf der Internetseite des Bundesamtes. Dabei bedeutet „Friedensdividende“, dass Rüstungs- und Verteidigungsausgaben gesenkt und das Geld für andere gesellschaftlich wichtige Dinge ausgegeben werden konnte.
2007 hätten Bund und Länder gemeinsam entschieden, öffentliche Schutzräume nicht länger aktiv zu halten. Einige wurden abgerissen, einige anderweitig genutzt und wieder andere an Privatleute oder Kommunen verkauft.? Neue Bestandsaufnahme ist in ArbeitJetzt aber, so berichtete das BBK auf Anfrage unserer Redaktion, führe man eine aktuelle Bestandsaufnahme der noch verbliebenen Schutzräume von Bund und Ländern auch im Hinblick auf ihre Schutzwirkung durch. Diese Überprüfung sei noch nicht abgeschlossen.
Bis dahin verweist das BBK darauf, im Falle eines Falles in massiv gebauten Kellern, U-Bahn-Stationen, Tiefgaragen und ähnlichen Gebäuden Schutz zu suchen.
Drei mögliche Ursachen für einen katastrophalen Atom-Unfall
Mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges ist allerdings nicht nur die Angst vor einem Atomkrieg zurückgekehrt. Es besteht auch die ernsthafte Gefahr, dass es zu einem Atomunfall kommt. Dr. Angelika Claußen, Co-Vorsitzendes des Verbandes der „Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs“, erläuterte gegenüber unserer Redaktion, dass es aus ihrer Sicht eine reale Gefährdung durch drei Faktoren gebe.
„1. Explosion und/oder Kernschmelze durch die Unterbrechung der Stromzufuhr, beispielsweise infolge der Zerstörung der Infrastruktur.
2. Explosion und/oder Kernschmelze infolge eines Bombeneinschlags (direkt auf ein Atomkraftwerk (AKW) oder auf Stromleitungen im Umkreis, die das AKW versorgen, um den Kühlmittelkreislauf aufrecht zu erhalten)
3. Explosion und/oder Kernschmelze infolge eines Flugzeugabsturzes auf ein AKW.“
Welche genauen Folgen ein solches Ereignis für Deutschland hätte, sei schwer vorherzusagen, sagt Angelika Claußen. Das hänge nicht nur von der Menge der ausgetretenen Strahlung ab, sondern auch von den Wetterverhältnissen sowie von der Frage, wie lange es dauere, bis man die Anlage wieder unter Kontrolle habe.
„Gegen die meisten radioaktiven Partikel gibt es keine medizinische Hilfe“
Die gesundheitlichen Folgen für Menschen, die der radioaktiven Strahlung ausgesetzt würden, wären in jedem Fall verheerend, macht Dr. Claußen klar: „Wenn die Strahlenintensität auf die Bevölkerung sehr hoch ist, kann bei den Betroffenen eine akute Strahlenkrankheit entstehen. Bei Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse oder radioaktivem Cäsium in Lunge, Knochen, Herzmuskel oder in die Fortpflanzungsorgane drohen u.a. Krebserkrankungen in den betreffenden Organen, die zum Teil erst Jahre nach dem Ereignis auftreten. Unsere Organe ,vergessen‘ keine Strahlenbelastung. Gegen die meisten radioaktiven Partikel wie Cäsium, Plutonium oder Strontium gibt es keine wirksamen Schutzmaßnahmen und keine medizinische Hilfe.“
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
