Deutschland und die dritte Welle: Heute zieht Merkel die Notbremse

Coronavirus

Vor der Ministerpräsidentenkonferenz machen Merkel und Länderregierungschefs klar: Lockerungen werden gestoppt. Um den Osterurlaub wird noch gekämpft

Berlin

22.03.2021, 06:48 Uhr / Lesedauer: 6 min
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). © picture alliance/dpa/AP/Pool

Wer genau diese Lok durch die Corona-Politik steuert, ist spätestens seit der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) Anfang März nicht ganz klar. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte plötzlich andere Weichen als bisher. Mehr in Richtung Lockdown-Lockerung.

Viele Länderregierungschefs hatten sich das gewünscht. Trotz absehbarer dritter Corona-Welle, grassierender britischer Virusvariante sowie niedriger Impfquote und fehlender Testkapazitäten.

Merkels Fahrplan entsprach das nicht. Aber sie ließ den Zug rollen. Nun wird sie die Notbremse ziehen. Und eine Reihe der Ministerpräsidenten mit ihr. Zurück zur Fahrt auf Sicht durch den Nebel der Pandemie. Viele Familien, Verbände und Unternehmen empfinden das als Crashkurs. Sie sprechen von psychosozialen und wirtschaftlichen Schäden. Die Ärzteschaft hingegen mahnt inständig: Ohne Gesundheit ist alles nichts.

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Lockdown-Verlängerung bis 18. April möglich

Am Sonntagabend wurde ein Entwurf aus dem Kanzleramt für die Ministerpräsidentenkonferenz an diesem Montag bekannt, der es in sich hat. Das Papier liegt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor.

Darin wird eingeräumt, dass die durch den monatelangen Lockdown erzielten Erfolge bei der Entwicklung der Neuinfektionen hinfällig sind. „Dass bedeutet, dass ohne deutlich einschränkende Maßnahmen die Zahl der Neuinfektionen so schnell steigen würde, dass bereits im April eine Überlastung des Gesundheitswesens wahrscheinlich ist.“

Debatte über Ausgangsbeschränkungen

Deshalb sollen die aktuellen Lockdown-Regeln über den 28. März hinaus bis zum 18. April verlängert werden, hießt es in dem Papier. Möglicherweise wird es auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen geben. Darüber bestand am Abend aber noch keine Einigung.

Ebenso wenig darüber, ob Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen werden, wenn ein zweimaliger Corona-Test pro Woche für Erziehungs- und Lehrkräfte sowie alle Schüler und betreuten Kinder in Präsenz nicht sichergestellt ist. Beschlossen ist das alles erst, wenn sich Bund und Länder am Montag darauf geeinigt haben.

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Allerdings hatte Merkel, die selten Entscheidungen vorwegnimmt, schon am Freitagabend nach dem Impfgipfel mit den zwei Frauen und 14 Männern, die die Bundesländer regieren, gesagt: „Hier will ich nur als Ausblick sagen - ohne den Beschlüssen vorgreifen zu können -, dass die Situation sich sehr schwierig entwickelt.“

Deshalb sei es gut, dass bei der MPK am 3. März eine Notbremse vereinbart wurde. Und dann machte sie ihre Position klar: „Wir werden von dieser Notbremse leider auch Gebrauch machen müssen.“ Und: „Ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne diese Notbremse auskommen, aber angesichts der Entwicklung der letzten Tage wird das nicht möglich sein.“

Die Notbremse

Nun heißt es in dem Entwurf: Angesichts der exponentiell steigenden Infektionsdynamik müsse die am 3. März vereinbarte Notbremse konsequent umgesetzt werden. Diese Notbremse besagt: „Steigt die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner an drei aufeinander folgenden Tagen in dem Land oder der Region auf über 100, treten ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft. Das war der Lockdown ohne Lockerung.

Die Inzidenzzahlen sind inzwischen über die 100er-Grenze gestiegen. Am Sonntag meldete das Robert-Koch-Institut den Wert von 103,9 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Das ist das für das Gesundheitssystem und damit die Bürgerinnen und Bürger so gefährliche exponentielle Wachstum, das Merkel meint. Am 3. März lag der Inzidenzwert noch bei 65.

Die Bürger werden auf Öffnungen warten müssen

In dem Papier steht: „Bei hohen Neuinfektionszahlen muss über eine Stabilisierung des Infektionsgeschehens hinaus mit Öffnungen abgewartet werden, bis die Zahlen gesenkt werden konnten.“ Angesichts der Infektionslage bedürfe es konsequenter Maßnahmen. „Insbesondere Kontakte in Innenräumen müssen aufgrund der dort erhöhten Infektionsgefahr weitestgehend vermieden oder mit umfassenden Schutzmaßnahmen wie dem verpflichtenden Tragen von Masken mit hoher Schutzwirkung und der Nutzung von Schnelltests verbunden werden.“

Um das Übergreifen von Infektionen aus Regionen mit höheren Inzidenzen in Regionen mit niedrigeren Inzidenzen weitestgehend einzudämmen, müsse auch die Mobilität weiterhin eingeschränkt und auf das absolut Notwendige reduziert werden.

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Arbeitgeber werden erneut aufgefordert, ihren Beschäftigten Homeoffice - oder regelmäßige Schnelltests anzubieten. „Die Tests sollen den Mitarbeitern mindestens einmal und bei entsprechender Verfügbarkeit zwei Mal pro Woche angeboten werden.“

Bund und Länder wollen eindringlich an alle Bürgerinnen und Bürger appellieren, auf nicht zwingend notwendige Reisen im Inland und auch ins Ausland zu verzichten – auch hinsichtlich der bevorstehenden Ostertage. „Das Auftreten von verschiedenen Covid-19-Varianten und deren weltweite Verbreitung haben gezeigt, dass der grenzüberschreitende Reiseverkehr auch weiterhin auf das absolut erforderliche Mindestmaß begrenzt werden muss.“ Unklar war, welche Quarantäne-Regeln und Test-Vorgaben gemacht werden sollen.

Kontaktarmer Urlaub?

Debattiert wurde über ein Konzept des „kontaktarmen Urlaubs“ - der Bürgern unter Beachtung der geltenden Kontaktbeschränkungen, strengen Hygieneauflagen und der Umsetzung eines Testregimes ermöglicht werden könnte.

Dies umfasst Beherbungen und Übernachtungen, bei denen eigene sanitäre Anlagen genutzt und Essen über Selbstversorgung organisiert werden kann. Dies trifft für Apartments und Ferienwohnungen oder für Wohnwagen und Wohnmobile auf Campingplätzen zu.

Im Rahmen von zeitlich befristeten Modellprojekten wurde ferner erwogen, dass einzelne Regionen mit niedriger Inzidenz, strengen Schutzmaßnahmen und einem Testkonzept Bereiche des öffentlichen Lebens öffnen, „um die Umsetzbarkeit von Öffnungsschritten unter Nutzung eines konsequenten Testregimes zu untersuchen“. Zentrale Bedingungen dabei sind lückenlose negative Testergebnisse als Zugangskriterium, IT-gestützte Prozesse zur Kontaktverfolgung.

Briefe an Merkel

Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft schrieb Merkel einen Brief. Darin betont Bundesgeschäftsführer Markus Jerger, ganze Branchen wie das Tourismus- und Gastronomiegewerbe oder der Einzelhandel drohten auf Dauer wegzubrechen.

Große Handelsketten warnten ihrerseits in einem Schreiben an Merkel und die Ministerpräsidenten vor einer Rücknahme der erst seit kurzem gültigen, begrenzten Einkaufsmöglichkeiten. Dem Handel dürfe nicht die Verantwortung für das steigende Inzidenz-Geschehen zugeschoben werden. Der Handel bringe große Opfer. Der Branche drohe ein Geschäfts- und Unternehmenssterben auf Raten.

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), forderte Bund und Länder auf, den Menschen Zuversicht und Vertrauen in die staatliche Pandemiebekämpfung zu vermitteln. „Wir befinden uns hoffentlich im letzten Drittel der Krise und müssen ruhig und besonnen weiter durchhalten“, sagte Sager dem RND. „Wir vertrauen darauf, dass die Menschen eigenverantwortlich mithelfen, sich selbst testen und im Urlaub verantwortungsvoll handeln. Diese Verantwortung kommt gerade in der laufenden dritten Welle zum Tragen.“

„Das Impfen muss schneller werden“

Um Öffnungen weiterhin zu ermöglichen, sei umsichtiges und vorausschauendes Handeln vor Ort notwendig. „Wir plädieren nach wie vor für Entscheidungen je nach Gesamtlage in den Landkreisen.“ Aber: „Das Impfen muss dringend Fahrt aufnehmen.“

Die Impfzentren der Landkreise stünden bereit, warteten jedoch noch immer auf genügende Impfstofflieferungen. Bei ausreichend vorhandenem Impfstoff müsse dann Tempo vor Bürokratie gehen. „Denn erst wenn wir eine ordentliche Herdenimmunisierung erreichen, steht die dauerhafte Rückkehr zur Normalität auf einer realistischen Grundlage.“

Bayerns Regierungschef und CSU-Vorsitzender Markus Söder sagt, angesichts der steigenden Infektionszahlen seien weitere Öffnungen sinnlos. Jetzt lieber konsequent und schneller handeln, auch wenn es noch mal Kraft koste.

Söder formuliert es in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ drastisch: „Wer jetzt die falschen Schritte geht, riskiert, dass aus der dritten Welle eine Dauerwelle wird“ Damit könnte sich alles bis in den Sommer hinein verlängern. Das Gegenmittel sei „das Instrument, das wirkt: die Notbremse“.

Weil: Aufhebung der Mallorca-Reisewarnung war ein Fehler

Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hält die Situation für ernst und kündigt im Gespräch mit dem RND an: „Niedersachsen wird die beschlossene Notbremse ziehen, und ich rate allen, das auch zu tun.“

Die Zahl der Neuinfektionen wieder zu drücken, werde dieses Mal weit schwieriger als zuvor. „Die dritte Welle wird durch ansteckendere Virusmutationen getrieben und trifft auf eine Corona-müde Bevölkerung – das macht sie so brandgefährlich.“

Dennoch müsse es eine Perspektive für die unter dem Lockdown leidenden Menschen geben, fordert der SPD-Politiker. „Schnelltests verschaffen uns selbst bei steigenden Infektionszahlen eine verhältnismäßig große Sicherheit für einen begrenzten Zeitraum“, so Weil.

Es gehe darum, ob Menschen mit einem negativen Schnelltest in Geschäfte, Theater oder das Restaurant gehen dürfen, wenn das Testergebnis nicht älter als 12 Stunden ist. Arbeitgeber müssten ihren Beschäftigten in Präsenz regelmäßige Schnelltests zur Verfügung anbieten.

Richtigen Ärger verspürt Weil aber über die Aufhebung der Reisewarnung für Mallorca durch die Bundesregierung. „Das war ein schwerer Fehler“, sagt er. „Das Beste wäre es, die Bundesregierung würde ihre Entscheidung revidieren.“

Akzeptanzprobleme: Mallorca ja, Lüneburger Heide nein?

Andernfalls müsse über eine strenge und mehrfache Testpflicht bei der Wiedereinreise oder eine Quarantänezeit gesprochen werden. „Noch mag das Infektionsgeschehen auf Mallorca unkritisch sein, aber wenn über Ostern Menschen aus ganz Europa auf der Insel zusammenkommen, haben wir sofort wieder einen neuen Hotspot“, warnt Weil.

Außerdem nehme er massive Akzeptanzprobleme wahr. „Ich kann niemandem erklären, warum er mit seiner Familie kein Ferienhaus in der Lüneburger Heide buchen darf, aber sehr wohl den Flieger nach Mallorca“, sagt Weil. Mindestens müsse es auch in Deutschland die Möglichkeit zu kontaktlosem Urlaub in Ferienwohnung oder Ferienhäusern geben.

Vom Leid der Tourismusbranche kann Oliver Roeber ein trauriges Lied singen. Täglich bekommt er Buchungsanfragen für sein „Kutscherhaus am Meer“ in Sassnitz auf Rügen. Er muss sie alle absagen. Touristen aus anderen Bundesländern dürfen nicht nach Mecklenburg-Vorpommern einreisen, Roeber darf niemanden beherbergen.

Gleichzeitig hoben am Sonntag die ersten Ferienflieger nach Mallorca ab. „Das ist doch grotesk“, regt sich Roeber auf: „Man darf sich in ein Flugzeug drängeln, im Zubringerbus, im Hotel, aber es ist verboten, mit dem eigenen Pkw in eine Ferienwohnung in Deutschland anzureisen.“

Roeber sieht nun das zweite Frühjahrsgeschäft in Folge davonschwimmen. Auch im vergangenen Jahr durften erst zu Pfingsten wieder Touristen an die Ostsee kommen. Zur MPK Montag sagt er: „Wir werden von der Politik im Vierwochenrhythmus vertröstet.“

„Wir gehen vor die Hunde“

„Während Reisen nach Mallorca gefördert werden, gehen die Vermieter hierzulande vor die Hunde“, klagt Roeber.

Er will nun nicht auf die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz warten. Er zieht jetzt vor Gericht. Insgesamt haben 20 Vermieter beim Oberverwaltungsgericht Greifswald einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um sowohl das Beherbergungsverbot als auch das Einreiseverbot für touristische Gäste zu stoppen.

Der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, fordert mehr Raum für die Jugend in den Debatten. „Die junge Generation steht bei der Ministerpräsidentenkonferenz mal wieder nicht auf der Tagesordnung“, sagt er dem RND und beklagt Schulschließungen.

Kuban fordert mehr Raum für die Jugend in den politischen Debatten

„Jetzt müssen Bewerbungsunterlagen erstellt, Schuleingangsuntersuchungen durchgeführt oder Abschlussprüfungen geplant werden. All das findet nicht statt.“ Gleichzeitig seien tiefgreifende und langfristige psychische Folgen absehbar. „Neben den berechtigten Interessen der Wirtschaft und dem Schutz der älteren Generation braucht die Jugend jetzt Platz in den politischen Debatten.“

Kann sich die MPK am Montag überhaupt noch auf eine glaubwürdige Corona-Politik einigen? Können Merkel und die Länderchefinnen und -chefs den Deutschen Zurückhaltung auch noch beim Osterurlaub auferlegen - und einen Sommer ohne Lockdown versprechen?

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) versucht es mit einer Warnung. Er sagte der „Bild am Sonntag“: Sollten viele Menschen im großen Stil Osterurlaub machen, „gefährdet das den Sommerurlaub von uns allen.“

Warnungen, Durchhalteparolen - viele Menschen können das nicht mehr gut hören, weil die Politik das schon so lange predigt. Und weil sie am 3. März Öffnungen beschlossen hat, die jetzt zum Rückschritt führen dürften. Per Notbremse.

RND

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