Der kindliche Schwur
Portrait
Als junges Mädchen in Schlesien hat Dorothea Koch-Thalmann viel Schlimmes gesehen. Deshalb hat sie sich geschworen, niemals selbst Kinder in die Welt zu setzen. Sie erzählt von ihren ersten Erlebnissen in Deutschland - und wie ihr Mann es schaffte, ihr Herz wieder etwas zu erweichen.

Dorothea Koch-Thalmann
Durch das Guckloch in der Tür kann Dorothea den Hof ihres Hauses beobachten, als plötzlich russische Soldaten ein junges, hübsches Mädchen in den Innenhof zerren. Es ist Steffi, ein polnisches Hilfsmädchen. Die Soldaten schleppen sie in das nächste Schlafzimmer. Lange blickt Dorothea regungslos aus dem Guckloch, bis die Tür sich wieder öffnet. Steffi stürmt aus dem Haus. Ihr Gesicht ist verzerrt und tränenüberströmt. Die Haare liegen zerstreut durcheinander, ihr Blick geht ins Leere.
„An diesem Tag hab ich mir geschworen, nie Kinder in diese Welt zu setzen.“
Wenn Dorothea heute mit 84 Jahren von damals erzählt, erinnert sie sich an jede Kleinigkeit. „Sie war dort mit fünf Männern im Zimmer. Das arme Mädchen ist darüber verrückt geworden“, seufzt sie und fährt sich mit beiden Händen durch den grauen Pagenschnitt. Dann erzählt sie von den Russen, die Anfang Mai 1945 Breslau, ja Schlesien zerstörten und das Heimatdorf bei Waldenburg, Wüstewaltersdorf, eingenommen haben. Die Schlesier wurden durch die Polen 1946 in den Westen vertrieben.
Wie sie Bruder, Mutter und Heimat verliert
Die Erinnerung an diese Zeit war nicht die einzige Erfahrung, die diese Welt für sie lange unerträglich machte. Der Verlust ihres Bruders Werner bestärkte sie in ihrem Schwur. Er war zwölf Jahre älter. Der Vater musste für seine sechsköpfige Familie hart arbeiten und wurde schließlich als ‚dienstunfähig‘ weil schwerkrank vom ‚Volkssturm‘ aus der Festung Breslau entlassen. Werner war für sie eine Vaterfigur. Am Heiligabend, kurz vor Kriegsende, stiehlt er sich unter den Augen Hitlers aus einer Kundgebung in Breslau. Er will seine Familie zu Weihnachten sehen, besonders seine Schwester, für die er einen ganz besonderen Spitznamen hat. „Da hat er mich das letzte Mal Moritz genannt“, erinnert sich Dorothea und strahlt über das ganze Gesicht. Die Falten verschwinden, die Augen glänzen, sie sieht dann sehr jung aus. „Ich hab die Haare eben schon immer kurz getragen.“
Sie greift zu einer getöpferten Kaffeetasse, die Erinnerung überkommt sie kurz. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später erfährt die Familie von Werners Tod zwei Wochen nach seinem kurzen Besuch. Bis dahin galt er wie so Viele als vermisst.
Kurze Zeit später wird sie aus ihrem Zuhause und Zufluchtsort vertrieben. Heimatlos kommt sie in den Westen nach Siegen in ein Flüchtlingsheim. „Das Gelände war abgesperrt und wir durften es auf keinen Fall verlassen“ erzählt Dorothea mit einem leidenden Lächeln und zieht die Augenbrauen hoch. Durch ihr Schulterzucken scheint sie sagen zu wollen, dass sie sich damit abgefunden hat. Heute lässt sich daran nichts mehr ändern, aber von Integration will sie nicht sprechen. „Wir wurden regelrecht unter den Tisch gekehrt“ erklärt Dorothea und haut mit geballten Fäusten auf ihre Knie. „Wir waren eben die Deutschen, die heimgekehrt sind“ beschreibt sie. Nach ihrer Geschichte gefragt hat niemand. „Es hat keinen interessiert was wir verloren haben. Wir wurden eher belächelt. Wir, die Schlesier.“
Doch nicht nur die Verluste ihres ältesten Bruders und ihrer Heimat lassen Dorotheas Herz hart werden, wie sie selber sagt. Kurz nach der Ankunft in Siegen erliegt ihre Mutter einer schweren Krankheit. „Weil sie alles krampfhaft in sich reingefressen hat! Man darf halt nicht in der Traurigkeit leben, wenn man ein neues Leben beginnen muss.“ Ohne den Rückhalt ihrer Mutter, fühle sie sich in dieser Welt wie ein kleines Mädchen allein im Wind, denn auch ihr Vater sei schwerkrank.
Zwischen Verzweiflung und Normalität
Heute sitzt Dorothea Koch-Thalmann auf dem Sofa ihrer Erdgeschosswohnung. Die geöffnete Terrassentür gibt den Blick auf einen kleinen Garten frei. Im Wohnzimmer riecht es nach Rauch und überall liegen Stapel von Büchern und Magazinen verstreut. Zwar hat Dorothea nur sechs Jahre lang die Schule besucht und auch diese Zeit war stets unterbrochen durch die Wirren Krieges. Doch Bücher und das Lesen hat sie schon immer geliebt. Am Ende wird es unter anderem auch ein ganz bestimmtes Buch sein, was sie von der inneren Zerrissenheit und Verschlossenheit über die traumatischen Erlebnisse der Kriegszeit befreit. Im Alter von 64 Jahren veröffentlicht sie ein Buch über ihre Kindheit in Schlesien, ihre Erinnerungen, die Schönen wie die Grausamen. Wenn Dorothea über ihr Buch spricht, dann mit der Bescheidenheit einer Frau, die in ihrem Leben lernen musste, was die wirklich wichtigen Dinge sind.
Nach all diesen Erfahrungen entscheidet Dorothea sich dafür, die Welt zu verbessern, um sie endlich akzeptieren zu können. Nach ihrer Ausbildung zieht sie nach Köln, um Jugend- und Familienarbeit zu leisten. „An meinem ersten Arbeitstag hab ich mich direkt gefragt wie ich hier Jugendarbeit leisten soll. An Tischen fehlten die Beine, Stühle lagen kreuz und quer, die Sofakissen waren zerfetzt und alles war vermüllt. In der hintersten Ecke saß ein Grüppchen von Jugendlichen die schon alle vor sich hin lallten.“ Bei dem Gedanken an diese erste Begegnung schüttelt sie den Kopf. Heute kann sie darüber lachen.
Gemeinsam mit den Jugendlichen baut sie das Gemeindezentrum wieder auf. Sie hat ihnen die Heimat und den Halt gegeben, Dinge, die sie selbst so lange gesucht hat. Den Kindern eine bessere Welt zu zeigen, war ihre ständige Motivation.
Sie arbeitet mit Frauen, Familien und Kindern. Dorothea hört ihnen zu und versucht, gemeinsam mit ihnen ihre Probleme zu lösen. „Dabei sitzt mir bis heute meine Mutter auf dem Hemdkragen, ich habe noch oft ihre Stimme im Ohr.“ Ihre bestimmte und pragmatische Art habe sie von ihrer Mutter.
Endlich Heimat
Dorothea gewöhnt sich im Westen ein, doch ganz abschütteln kann sie die innere Leere noch nicht, sagt sie. Erst ihr Mann Dietrich, den sie mit 45 Jahren heiratet, schafft es, diese Leere auszufüllen. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung nach Düsseldorf. „Hier haben wir uns unsere eigene kleine Heimat aufgebaut.“ Dorothea denkt noch oft an ihre Jugend in Schlesien. Besonders wenn sie Urlaub in den Bergen macht und den Geruch der Wiesen und Wälder in der Nase hat, fühlt sie sich in ihre Vergangenheit versetzt. Heute ist Dorothea mit ihrer Welt zufrieden. Sie war für viele fremde Kinder eine Mutterfigur. Nur eigene Kinder hatte sie nie, denn ihrem kindlichen Schwur ist sie immer treu geblieben.