Das Mehrgenerationenhaus - ein Ort zum Altwerden?

Besuch in Essen

Es ist bunt, lebendig und nie langweilig: Im Generationenkult-Haus in Essen muss sich niemand allein fühlen. Bis ins hohe Alter kann man hier leben - zusammen mit jüngeren und älteren Menschen. Wir haben das Haus besucht und mit einem Bewohner gesprochen, der sich vorstellen kann, sich hier später pflegen zu lassen.

von Andrea Wellerdiek

ESSEN

, 12.09.2016, 05:44 Uhr / Lesedauer: 4 min
Im Generationenkult-Haus in Essen leben derzeit 38 Menschen. Die jüngste Bewohnerin ist 15, die älteste 78 Jahre alt. Auch als Senior muss sich hier niemand allein fühlen. Denn die Gemeinschaft wird in dem bunten Haus groß geschrieben.

Im Generationenkult-Haus in Essen leben derzeit 38 Menschen. Die jüngste Bewohnerin ist 15, die älteste 78 Jahre alt. Auch als Senior muss sich hier niemand allein fühlen. Denn die Gemeinschaft wird in dem bunten Haus groß geschrieben.

Reinhard Wiesemann hat sich überlegt, wie er selbst einmal alt werden möchte. Die Antwort war schnell klar: Mit vielen unterschiedlichen Menschen unter einem Dach. Und sie alle sollen unterschiedlich alt sein. Deshalb hat der Unternehmer im Jahr 2011 ein Haus in der nördlichen Innenstadt von Essen ersteigert, es für vier Millionen Euro renoviert und daraus das Generationenkult-Haus, kurz GeKu-Haus, gegründet.

38 Personen unter einem Dach

Aktuell leben dort 38 Personen in 21 WG-Zimmern und 18 Appartements. „Es macht Sinn, sich frühzeitig darüber Gedanken zu machen, wie man im Alter leben will – wenn man selbst noch aktiv ist. Viele verdrängen das Thema. Es ist aber doch so, dass das Altwerden eine Hoffnung ist und keine Gefahr. Deshalb ist das Nachdenken über das Altwerden für mich ein Projekt wie jedes andere auch“, sagt Wiesemann.

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Das Mehrgenerationenhaus in Essen

Im Generationenkult-Haus in der Essener Innenstadt leben derzeit 38 Menschen unterschiedlichen Alters zusammen. Sie genießen die rege Gemeinschaft, aber auch die Rückzugsmöglichkeiten, die die Bewohner mit ihrem WG-Zimmer oder in ihrem Appartement haben. Hier leben Jung und Alt gern unter einem Dach.
07.09.2016
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Außenansicht des Mehrgenerationenhauses in Essen in der Viehoferstraße 31.© Wellerdiek/Wiesemann
Im Generationenkult-Haus in Essen leben derzeit 38 Menschen. Die jüngste Bewohnerin ist 15, die älteste 78 Jahre alt. Auch als Senior muss sich hier niemand allein fühlen. Denn die Gemeinschaft wird in dem bunten Haus groß geschrieben.© Foto: Wellerdiek/Wiesemann
Tina, Korinna und Frauke (v.l.) leben im Generationenkult-Haus in Essen unter einem Dach.© Foto: Wellerdiek/Wiesemann
Wolfgang Nötzold wohnt seit 2012 in dem Mehrgenerationenhaus. Er ist gleich nach der Eröffnung des Hauses in sein Appartement eingezogen.© Wellerdiek/Wiesemann
Der Unternehmer Reinhard Wiesemann hat im Jahr 2011 das Mehrgenerationenhaus gegründet. Der 56-Jährige lebt auch selbst in dem Haus in der Essener Innenstadt.
Die große Terrasse des Mehrgenerationenhauses© Wellerdiek/Wiesemann
Die große Terrasse des Mehrgenerationenhauses© Wellerdiek/Wiesemann
Die große Terrasse des Mehrgenerationenhauses© Wellerdiek/Wiesemann
In der Lounge in der sechsten Etage des Hauses befindet sich ein großer Gemeinschaftsraum und eine Küche.© Wellerdiek/Wiesemann
Die Bewohner können eine Sauna im Untergeschoss des Hauses nutzen.© Wellerdiek/Wiesemann
So sieht ein Appartement in dem Generationenkult-Haus aus.© Wellerdiek/Wiesemann
Blick in ein WG-Zimmer im Mehrgenerationenhaus.© Wellerdiek/Wiesemann

Heute lebt der 56-Jährige selbst in dem sechsstöckigen Haus, in dem der Gemeinschaftsgedanke groß geschrieben wird. Hier wohnt der Unternehmer neben der Studentin und die Rentnerin neben dem Verwaltungsangestellten. Die Bewohner sind unterschiedlich alt. Die jüngste Bewohnerin ist 15, die älteste 78. „Es gibt keine bestimmten Typen, die hier wohnen. Aber man kann sagen, dass es viele Singles sind – ob Jung oder Alt“, sagt Annette Allkemper.

Die 56-Jährige kümmert sich um den sogenannten Concierge-Service im Haus. Sie säubert die Gemeinschaftsräume wie den Medienraum, die Sauna im Keller oder den Loungebereich. Damit nimmt sie den Bewohnern alltägliche Aufgaben ab. Doch die Bewohner helfen sich auch gegenseitig.

Allkemper erklärt ein Beispiel, das sie als „Vorstufe zu einem Pflegedienst“ bezeichnet: Wer frisches Obst und Gemüse kaufen möchte, meldet sich zum Beispiel bei Bärbel (65) und Hans (70). Das Paar besucht zweimal die Woche den Wochenmarkt und bringt für die Nachbarn aus dem GeKu-Haus Lebensmittel mit. Das kommt auch bei den jüngeren Bewohnern gut an.

Vielfalt spürbar

„Das ist einfach spitze – gerade für viele junge Leute, die tagsüber weg sind und gar nicht auf den Markt kämen, weil sie gar keine Zeit haben. Das ist für mich ein schönes Beispiel, dass es nicht nur geht: Jung hilft Alt, sondern wir helfen uns gegenseitig. Das ist keine Einbahnstraße“, sagt Wolfgang Nötzold, der auch schon mit seiner Tochter in einer Kommune gewohnt hat.

Der alleinstehende 69-Jährige ist gleich nach der Eröffnung des Hauses, im Januar 2012, in ein Appartement gezogen. „Ich lebte alleine, aber ich wollte nicht alleine wohnen. Nicht so alleine. Da war kein Mensch. Ich wollte nicht so isoliert wohnen“, erzählt der pensionierte Berufsschullehrer von seiner vorherigen Wohnung in Dortmund. Nun schätzt er die Vielfalt im Haus und die verschiedenen Menschen. Hier wird es nie langweilig. Wer nicht allein sein möchte, sich mit anderen Menschen austauschen möchte, der geht oder fährt mit dem Aufzug in die sechste Etage des Hauses.

Nachdem die Tür zur Lounge geöffnet ist, sind Gespräche zu hören, zwei Bewohnerinnen quatschen in der Küche über ihren Tag und kochen etwas gemeinsam. Auch Wolfgang Nötzold unterhält sich gern mit den Bewohnern, genießt aber auch die Ruhe, die er in seinem Appartement findet.

Für viele seiner Nachbarn ist es das, was das GeKu-Haus ausmacht: Man kann die Gemeinschaft suchen oder sich zurückziehen. Jeder macht es so, wie er es gern mag. „Ich will nicht alleine alt werden und ich will nicht nur unter Gleichaltrigen alt werden. Ich kann mir vorstellen, hier älter zu werden. Aber ich weiß nicht, ob es so sein wird. Vielleicht gehe ich auch ins Heim – das ist immer in Abhängigkeit davon, was mit uns passiert“, sagt Nötzold.

Internet in der Sauna

Die Grundlagen dafür, in dieser Umgebung alt zu werden, sind geschaffen. Das Haus liegt in der Innenstadt, viele Einrichtungen sind fußläufig erreichbar. „Und wir haben diesen ganzen hippen Kram wie zum Beispiel Internet in der Sauna und einen Kickertisch – und gleichzeitig ist das Haus seniorengerecht gestaltet“, sagt Unternehmer Reinhard Wiesemann.

Das Gebäude, das drei Wohn-Etagen beinhaltet, ist barrierearm und mit einem Aufzug ausgestattet. Alle Türen lassen sich von außen öffnen und die Badezimmer sind mit unterfahrbaren Waschtischen und einer Notleine ausgestattet. Wenn ein Bewohner im Notfall an der Strippe zieht, leuchtet ein Licht im Flur auf. An einen Notdienst ist das System nicht angeschlossen. Denn bislang ist kein Bewohner pflegebedürftig.

Großer Gemeinschaftsgedanke

Wenn der Bedarf da ist, gibt es einige Konzepte, die sich Wiesemann vorstellen kann. Die Basisversorgung könnte über einen externen Pflegedienst erfolgen. „Ein Plus wird durch die Hausgemeinschaft erreicht. Das ist alles, was das Leben schöner macht – zum Beispiel Gespräche oder das gemeinsame Kochen“, sagt Wiesemann. Viele Dinge könnten die Bewohner selbst auffangen, glaubt er. Davon ist auch Wolfgang Nötzold überzeugt.

„In der Not kriegen wir einiges hin. Aber das auf Dauer zu leisten, das ist das Problem“, sagt der Wolfenbütteler, der sich selbst über die Hilfsbereitschaft seiner Mitbewohner gefreut hat, als er im Winter 2015 für eine Strahlentherapie wöchentlich ins Krankenhaus musste.

Arbeit und Leben

„Das war ein Probefall. Ich hätte auch mit der Bahn fahrenkönnen. Aber es war schön, wenn dich jemand hinbringt. Und es ist schön, wenn du Leute hast,die dich besuchen kommen“, sagt er. Neben seinem Appartement, in dem er eine Küche hat und ein kleiner Arbeitsbereich im Schlafzimmer eingerichtet ist, nutzt der 69-Jährige die Co-Working-Etage.

Hier kann er als Bewohner des Hauses kostenlos einen Schreibtisch nutzen. Ganz bewusst hat Gründer Reinhard Wiesemann die fünfte Etage als Arbeitsbereich installiert, „um junge Leute anzuziehen“. Hier können neben den Bewohnern auch externe Interessenten einen Arbeitsplatz gegen einen Monatsbeitrag mieten. Vor allem Selbstständige nutzen das Angebot.

Möglichkeit zum Austausch

„Die Trennung Arbeit und Leben ist nicht mehr angesagt. Es gibt Leute, die weit über 60 noch an Projekten arbeiten. Das macht das Leben schön. Es geht im Alter nicht nur darum, nichts zu tun, zu verreisen oder Golf zu spielen“, sagt Wiesemann. „Im Alter tendiert man dazu, nur eigene Themen, an denen man Spaß hat, in der eigenen Geschwindigkeit zu schaffen.“Der Gründer des GeKu-Hauses möchte so lange wie möglich in dem Haus in der Essener Innenstadt wohnen. Vorausgesetzt, er wird im Alter nicht schwer pflegebedürftig.

„Ab einem bestimmten Punkt geht es hier nicht mehr weiter. Das ist unrealistisch. Wir versuchen aber, diesen Punkt soweit es geht nach hinten zu verschieben, sodass man so lange hier bleiben kann, wie es geht“, sagt der 56-Jährige. „Hier sind viele junge Leute. Wir sind mitten in der Stadt. Das ist ein fantastisches Lebensgefühl. Wir sind weit weg von einer Seniorenresidenz. Es ist ein buntes Haus.“

Weitere Informationen unter: www.generationenkult.de/haus

Das Generationenkult-Haus, kurz GeKu-Haus, ist zurzeit die Heimat für 38 Personen. Insgesamt gibt es 21 WG-Zimmer, darunter auch eine große WG mit 13 Bewohnern, sowie 18 Appartements. Die Bewohner sind unterschiedlich alt und haben verschiedene soziale Hintergründe.