Damit die Lippe frei fließt - was geschah, was kommt
Fragen und Antworten
So dreckig und stinkend wie die Emscher war sie nie, doch auch die Lippe wurde einst verschmutzt und stark begradigt. Seit Jahren wird viel für eine Renaturierung getan. Was das heißt, wie schwierig das ist und was Sie davon haben - das lesen Sie hier.

Die Lippemündung in Wesel ist durch den Lippeverband verlegt worden.
Zurück zum Ursprung: Die Lippe wird renaturiert. Warum fließt sie nicht mehr so, wie sie ursprünglich mal floss?
Weil der Mensch sie ausgebaut und begradigt hat. Ein kurzer Rückblick: Um Christi Geburt fuhren schon die Römer mit ihren Schiffen auf der Lippe. Sie nutzten sie so, wie diese sich über Jahrhunderte hinweg ihren Weg gesucht hatte. Sie war damals sehr kurvenreich. Man sagt: Sie mäanderte. Lange Zeit danach war sie für die Schifffahrt eher uninteressant. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber wurde sie wieder gebraucht und zwischen Lippstadt und Wesel geplant ausgebaut, damit Transportkähne besser auf ihr fahren konnten. Mehrere Schleusen entstanden.
Im 20. Jahrhundert wechselten die Schiffe auf die Kanäle. Die Lippe wurde trotzdem weiter vertieft, eingedeicht und auch verkürzt. Landwirtschaft und Städte sollten vor Hochwassern geschützt werden.
Wie hat sich das auf die Lippe ausgewirkt?
Laut Bezirksregierung Arnsberg waren die Lippeufer 1990 zwar grün, aber komplett befestigt. Der Ausbau hat die Lippe schrumpfen lassen: 15 bis 20 Prozent ihrer Länge hat sie zwischen 1890 und 1990 verloren. Im Schnitt ist sie drei Meter tiefer geworden. Durch den Ausbau und die Landwirtschaft sind die einst typischen Auenlandschaften fast gänzlich verschwunden - große Flächen neben dem eigentlichen Fluss, die regelmäßig unter Wasser stehen. Der Mensch hat die Lippe zu seinem Nutzen modelliert - die Tierwelt hat darunter sehr gelitten.
Ebenso die Wasserqualität. Industrie und Bergbau haben vor allem in die Lippe westlich von Hamm Abwässer fließen lassen. Die waren zwar geklärt, sagt Michael Steinbach vom Lippeverband, haben das Wasser aber dennoch verschmutzt und erwärmt.
Sieht es immer noch so trübe aus für die Lippe?
Nein, der Mensch hat umgedacht: Seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind bundesweit Renaturierungsprojekte gestartet - befeuert auch von höchster Ebene: Die EU hat im Jahr 2000 mit ihrer Europäischen Wasserrichtlinie eine hohe ökologische Qualität der Gewässer zum Ziel gesetzt. Für die Lippe hieß es, an zwei Enden anzusetzen: Wasserqualität verbessern und dem Fluss wieder mehr Raum zum Fließen geben.
Um die Wasserqualität zu heben, wurde laut Lippeverband in den vergangenen 20 Jahren viel in die Kläranlagen investiert. Auch der Salzgehalt sei "stark zurückgegangen", da immer weniger Gruben- und Bergbauwasser anfielen, sagt Sprecher Steinbach. Mittlerweile hat die Lippe durchgängig Wassergüteklasse II. "Mehr ist für einen Flachlandfluss auch nicht zu erreichen", so Steinbach.
1996/97 startete dann das, was die Experten gerne "Entfesselung der Lippeufer" nennen. Übersetzt heißt das: Alles, was den Fluss künstlich begradigt, soll weg. Deiche, Steinanschüttungen, Flussbausteine. Kurvenreicher, natürlicher, breiter und flacher soll die Lippe wieder verlaufen dürfen. Dadurch sollen auch die Auen immer wieder unter Wasser stehen können. Wie in der Römerzeit.
Klingt ambitioniert. Wie lief der Start?
Los ging es im Sommer 1996 in der Klostermersch bei Lippstadt. Dort wurde zum ersten Mal in NRW eine Auenlandschaft renaturiert. Das Ziel: Die Lippe in diesem Abschnitt von 13 auf 45 Meter zu verbreitern und ihre Sohle um rund zwei Meter anzuheben. Diesen Zahlen liegen umfangreiche theoretische Berechnungen zu Grunde. Denn altes Kartenmaterial zur natürlich fließenden Lippe gibt es laut Bezirksregierung Arnsberg nicht mehr.
Eine 50-seitige Bestandsaufnahme der Behörde zeigt sehr deutlich, wie komplex solche Renaturierungsprojekte sind: So wurde in der Klostermersch ein höher gelegener Verbreiterungsgraben ausgehoben, dann wurde der Damm zwischen Lippe und neuem Graben entfernt. Mit dieser Erde wurde die Sohle der Lippe aufgeschüttet, damit sie wieder flacher fließen kann. In den Auen wurden alte Kanäle und Wasserläufe wieder ausgegraben. Am Ende der renaturierten Strecke musste der Höhenunterschied zwischen neuer und alter Lippe mit Rampen wieder ausgeglichen werden - eine kniffelige Aufgabe. Und eine, die Zeit braucht. Und Übergangslösungen.
Es folgten noch weitere Projekte im Raum Lippstadt, bis auch der Lippeverband startete.
Der Lippeverband mit Sitz in Essen ist nicht für die gesamte Lippe zuständig, sondern nur für den Abschnitt zwischen Lippborg und Wesel. Für diese 150 Kilometer koordiniert der Verband die Renaturierung. Hauptsächlich allerdings kümmert er sich um die komplette Wasserwirtschaft entlang der Lippe: Was fließt wie von wo nach wo? Welche Qualität hat das Wasser? Ganz besonders wichtig sind dabei Abwasserableitung und -reinigung. Für die Renaturierung der Lippe von der Quelle bis Lippborg ist die Bezirksregierung Arnsberg zuständig.
Wer sich ausführlicher für die ersten Renaturierungs-Projekte an der Lippe interessiert, kann die Bestandsaufnahme der Bezirksregierung Arnsberg hier lesen:
Was ist beim Lippeverband schon passiert?
- Der Lippeverband hat einen wichtigen, großen Seitenbach der Lippe bereits komplett renaturiert: die Seseke.
Ansonsten laufen verschiedene, weitere Projekte. Einige Beispiele:
- Die Mündung der Lippe in den Rhein bei Wesel ist rundum erneuert. Die Lippe fließt hier nicht mehr gerade in den großen Rhein. Sie nimmt viele Windungen, dazwischen liegen Auen, wie dieses Luftbild zeigt: Die neue Lippe-Mündung bei Wesel - eine Auenlandschaft. Foto: Blossey/Lippeverband
- In Haltern an der Mündung zur Stever wurden Uferbefestigungen entfernt.
- Zwischen Olfen und Datteln sollen sechs Kilometer Lippe-Ufer aufgebrochen werden - alle Steinschüttungen werden entfernt. Die Lippe soll am Ende 65 Meter breit sein - drei Mal so breit wie jetzt. Die Sohle der Lippe wird angehoben, um 75 Zentimeter. Laut Lippeverband wurden Anfang des Jahres bereits große Bodenmassen abgetragen. Das Projekt ist eines der größeren, sagt Verbandssprecher Michael Steinbach. Und es ist Teil der Regionale 2016, einem Strukturförderprogramm des Landes NRW.
- Ein weiteres, sehr großes Projekt kann bald an den Start gehen: In Haltern-Lippramsdorf sollen Deiche ins Hinterland verlegt werden. Zunächst werden rund 14 Kilometer neue Deiche gebaut, anschließend die alten abgerissen. Dazwischen kann sich die Lippe ausbreiten und eine Auenlandschaft entwickeln. Die Arbeiten sollten schon längst laufen, doch ein unterlegener Bieter für das Projekt hatte Vergabebeschwerde eingereicht - der Streit landete vor Gericht und das Projekt verzögerte sich somit. Erst Ende April dieses Jahres verlor der Bieter vor dem Oberlandesgericht. Im Sommer sollen die Bauarbeiten nun losgehen. Der Bauunternehmer aus Papenburg im Emsland ist bereits für das Projekt in Olfen/Datteln zuständig.
Insgesamt sind im Gebiet des Lippeverbandes von insgesamt 300 Kilometern Uferlänge bisher knapp 50 Kilometer "entfesselt".
Kein altes Kartenmaterial mehr, Auseinandersetzungen vor Gericht - gibt es noch weitere Probleme?
Ja. Manchmal ist es sehr schwierig bis unmöglich, die Lippe wieder natürlich fließen zu lassen.
- Kein Platz: Mancherorts gibt es rein räumlich einfach keine Möglichkeit, die Deiche zurückzubauen oder zu versetzen. So zum Beispiel in Dorsten, wo die Lippe direkt durch die Stadt fließt. Laut Lippeverband ist sie dort im Sommer bis zu fünf Meter tief. Die Deiche sind wichtig, um die Stadt vor Hochwassern zu schützen. "In Dorsten wird man nie auf eine flache Lippe kommen können", sagt Lippeverbands-Sprecher Steinbach. Man könne nicht für jeden Abschnitt des Flusses dieselben Maßstäbe ansetzen.
- Keine Verkäufer: Selbst wenn genug Platz ist, die Lippe zu verbreitern - so gehören dem Lippeverband längst (noch) nicht alles Grundstücke entlang des Flusses. Bevor ein Renaturierungsprojekt starten kann, muss der Verband den Uferstreifen aufkaufen. Und das läuft laut Steinbach nicht immer reibungslos. Oft gehören die Grundstücke Landwirten. Die seien zwar "kooperativ" und würden die Projekte an sich "gut heißen". "Ihre Bereitschaft, sich von Flächen zu trennen, ist aber nicht groß", formuliert es Steinbach diplomatisch. In der Regel laufe es daher so, dass der Lippeverband zunächst eine andere Fläche kauft, um diese dann dem Landwirt als Tauschfläche anzubieten - ein sehr langwieriger und schwieriger Prozess. "Jedes Projekt braucht daher einen langen Vorlauf", so Steinbach. Zur Zeit bereite man Projekte vor, die frühestens in fünf Jahren starten.
- Kein Geld: Für die Renaturierungsprojekte kann der Lippeverband in der Regel nicht auf seine herkömmlichen Einnahmequellen zurückgreifen. Denn die Beiträge, die Kommunen, Industrie und Bergbau an den Lippeverband zahlen, sind für die Abwasserreinigung. In die Renaturierung fließt vor allem Geld vom Land - und das ist nicht immer "in der gewünschten Höhe", sagt Steinbach.
Rekordhalter Lippe: Die Lippe ist rund 225 Kilometer lang. Damit ist sie laut Landesamt für Umwelt-, Natur- und Verbraucherschutz (LANUV) der längste Fluss, der komplett in NRW liegt. Ihrem Quellort hat sie seinen Namen gegeben: Bad Lippspringe. Von dort fließt sie westwärts, streift dabei Paderborn, fließt durch Lippstadt, Lippetal und Lippborg, weiter Richtung Hamm. Über Werne, Lünen, Olfen, Haltern geht es durch Dorsten und Hünxe, ehe sie schließlich bei Wesel in den Rhein mündet. Die Lippe nimmt Wasser von zehn größeren Seitenbächen auf, darunter die Seseke und die Stever. Insgesamt ist das Wasser-Einzugsgebiet der Lippe 4900 Quadratkilometer groß - und damit fast 15 Mal so groß wie das Bundesland Bremen.
Was kostest das alles denn?
Der Lippeverband kann eigenen Angaben nach keine Gesamtsumme nennen. Das sei "nicht möglich", da es sich nicht um ein klar abgrenzbares Projekt handele, heißt es. Insgesamt werden es viele Millionen Euro sein, wie die Kosten für einige Einzelprojekte vermuten lassen:
- Seseke-Programm: Die komplette Renaturierung dieses Lippe-Zuflusses hat um die 500 Millionen Euro gekostet, einschließlich Kanäle und Kläranlagen
- Renaturierung zwischen Olfen und Datteln: 10 Millionen Euro
- Neue Deiche bei Haltern-Lippramsdorf und Marl: 95 Millionen Euro
- Neue Lippemündung bei Wesel: 18 Millionen Euro
Und was habe ich als Lippe-Anwohner oder Besucher von all dem?
Vor allem ein schöneres Landschaftsbild und mehr Natürlichkeit - und beides komme gut an, hat die Biologin Margret Bunzel-Drüke beobachtet, die bei der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest seit Jahren an der Renaturierung der Lippe mitwirkt. Touristisch wird dies ausgenutzt - es gibt immer mehr Spazierwege, Aussichtsplattformen, Radwege, Naturerkundungs- und Kanu-Touren.
Dabei lassen sich mittlerweile auch wieder viel mehr Tiere als noch vor 50 Jahren beobachten. Viele Amphibien, Vögel und vor allem Fische haben sich vermehrt oder sind gar erst wiedergekommen, nachdem die Lippe wieder natürlicher geworden ist. Und damit sauberer, kälter und flacher.