Borchert-Theater setzt Alfred Flechtheim ein Denkmal
Uraufführung
Das Wolfgang Borchert Theater hat dem jüdischen Kunstsammler Alfred Flechtheim (1878-1937) ein wunderbares Denkmal gesetzt. Intendant Meinhard Zanger beauftragte die Autorin Arna Aley mit einem Stück über sein Leben. Die Weichen dieses Lebens wurden genau dort gestellt, wo das Theater seit Samstag offiziell residiert: im Flechtheimspeicher an Münsters Hafen.

Bernd Reheuser als Alfred Flechtheim in "Die letzte Soirée". Mit der Uraufführung eröffnete das neue Wolfgang Borchert Theater im Flechtheimspeicher.
Der Zuschauer erlebt Fred im Getreidekontor, wo er sich lieber mit seinem Liebhaber amüsiert als die Post zu bearbeiten. Man sieht Fred pleite, lebensmüde und whiskeysaufend – und wieder hochgerappelt bei seiner ersten Galerieeröffnung in Düsseldorf 1913. Kurz danach zieht man mit ihm in den Krieg – von Regisseur Zanger als groteske Clownerie inszeniert. In Paris stolpert Flechtheim in eine surreale Welt mit Kriegsversehrten, bis er zur letzten Soirée für seine Frau Betti nach Berlin bittet, zu der aber nicht nur Maler George Grosz und Boxer Max Schmeling erscheinen, sondern auch die Gestapo. Sieben Schauspieler erzählen Flechtheims Leben. Nein, im Grunde sind es acht mit dem Pianisten Manfred Sasse, der in einem dadaistischen Moment als König Ubu über die Bühne radelt. Es gibt aber noch einen neunten Protagonisten: das Klavier selbst. Sasse beackert den offenen Klangkörper, als wolle er ihn zerlegen. Der oft klirrend-sirrende Soundtrack, der sich immer wieder mit kleinen und großen Gesängen der Schauspieler verwebt, gibt dem Stück die nötige Tiefe und den kosmischen Zusammenhalt. Ein cleverer Schachzug von Zanger.
Fred ist die Sonne in diesem Universum. Und Bernd Reheuser verkörpert diesen Dandy mit ominösem „Moses-Komplex“ trefflich und begehrenswert. Ihm vergibt man jedes Laster. Fred liebt Männer und Frauen, das Leben, sich selbst, vor allem aber die Kunst. Fred ist die Kunst, die Kunst ist Fred. Bis auf Reheuser sind alle Schauspieler mehrfach besetzt. Die Figuren schwirren um ihn herum wie Planeten in einem noch unerforschten Sonnensystem. Monika Hess-Zanger überzeugt als Offizier mit Clownsnase ebenso wie als gehörnte Ehefrau Betti. Die Szenen zwischen ihr und Reheuser sind besonders intensiv. Es ist bewegend, wenn der tote Fred bei Betti erscheint, kurz vor ihrem eigenen Selbstmord, mit dem sie der Deportation zuvorkommen will. Und anrührend ist auch die Szene mit Claudia Kainberger als junge Betti, die ihr Kind durch eine Bauchhöhlenschwangerschaft verliert.
Sabrina vor der Sielhorst erweist sich als außerordentlich talentierte Sängerin („Somewhere over the rainbow“), gibt die zugeknöpfte Empfangsdame im Getreidekontor ebenso wie die kesse Carla, mit der Fred anbändelt. Florian Bender und Luan Gummrich haben als Nils und Hartwig keine Chance: Auch sie erliegen Freds Charme. Schauspieler Sven Heiß gibt den Boxer Schmeling – und ätzt als antisemitischer Kunstbanause. Sie alle kreisen im Flechtheim-Kosmos, den Darko Petrovic in ein schlichtes Einheitsbühnenbild gefasst hat. Hinter großen Bildrücken vermutet man die großen Werke, die Flechtheim liebte: Picassos, Braques, Cézannes, van Goghs. Doch nur wenige Bilder werden umgedreht. Sie bleiben unsichtbar. Das könnte man als Anspielung auf die Kunst an sich verstehen. Wie wird sie in unserem Leben sichtbar? Zu was ist sie fähig? Kann sie dem Leben Bedeutung geben? Flechtheim hat diese Sehnsucht jedenfalls gehabt.