Bei Tolstoi tötet die Moral die Lust

Lesung August Zirner

MÜNSTER Liebevoll geht es in der „Kreutzersonate“ von Lew Nikolajewitsch Tolstoi ganz und gar nicht zu. Und dennoch dreht sich in dem Text letztlich alles um das Eine: um die wechselseitige Anziehung von Mann und Frau. Eindringlich lieh August Zirner am Donnerstag der Novelle bei Weverinck im Kleinen Haus seine Stimme.

07.12.2012, 19:02 Uhr / Lesedauer: 2 min
Tolstois beste Stimme: Schauspieler August Zirner.

Tolstois beste Stimme: Schauspieler August Zirner.

„Wissen Sie, wer ich bin?“, eröffnet der Schauspieler seine Lesung. „Posdnyschew ist mein Name.“ In gebeugter Haltung rückt er die Zettel vor sich auf dem Tisch zu einem ordentlichen Stapel. Wieder und wieder. Sein Blick ist fahrig, die Knie presst er fest gegeneinander. „Soll ich Ihnen erzählen, wie die Liebe mich zu dem geführt hat, was mir passiert ist?“, fragt er. Und schon ist er mittendrin in der Erzählung eines Mannes, der entgegen seiner moralischen Überzeugungen als Jüngling den Reizen der Sinnlichkeit erlag, sich verliebte und nach Jahren des heiß-kalten Ehekrieges seine Frau erstach. Mit aggressivem Unterton schildert Zirner in Tolstois Worten die erste Begegnung der beiden. Eine wahre Schönheit sei seine Zukünftige gewesen, doch letztlich sei es eine Illusion, dass das Schöne auch das Gute sei. Schon bald sei Feindseligkeit zwischen die intensiven Phasen der Sinnlichkeit getreten. Schnell wird deutlich, dass es vor allem der innere Konflikt des Protagonisten zwischen privatem Bedürfnis und gesellschaftlichen Moralvorstellungen ist, der die Spannungen zwischen den Eheleuten schürt, nicht das Verhalten seiner Frau. Das Paar bekommt Kinder, schließlich aber erhält die Ehefrau die Diagnose, dass sie keine weiteren Kinder mehr gebären solle.

Dies markiert das Ende jeder Erotik zwischen dem Paar. Fortan findet Sinnlichkeit im Verborgenen statt. Eifersüchtig fantasiert Posdnyschew eine Affäre seiner Frau mit dem Geiger Truchatschewskij herbei. Dem Text der „Kreutzersonate“ sei er erst vor wenigen Jahren begegnet, berichtet August Zirner im Gespräch. Seine Frau Katalin Zsigmondy, ebenfalls Schauspielerin, sei damals von einem Verlag gebeten worden, sich mit der Gegendarstellung der Autoren-Ehefrau Sofja Tolstaja auseinander zu setzen. Erst 2008 sei dieses Werk mit dem Titel „Eine Frage der Schuld“ erschienen. Anlass genug für Zirner, Tolstois Erzählung zur Hand zu nehmen. „Ich hab mich sofort in den Text verknallt“, verrät er.

Die Novelle hatte bei ihrem Erscheinen 1890 zunächst Befremden ausgelöst. Die Ehefrau in der Erzählung setzte man mit Tolstois Gattin gleich. Sofja war empört über die negative Sicht ihres Mannes auf die Ehe. Letztlich, so Zirner, gehe es dem Autor jedoch um die seelische Verbindung zwischen Menschen, ohne die in seinen Augen wahre Sinnlichkeit nicht möglich sei. Im Text gebe es kein Richtig und kein Falsch, das sei das Spannende. Was der Protagonist aufgrund gesellschaftlicher Schranken selber nicht leben kann, erlebt er im Geiste in der Stellvertreterfigur des Geigers. Der Kampf gegen die innere Qual eskaliert und endet dramatisch. Ein lohnender Abend mit einem hervorragenden Text und einer beeindruckenden schauspielerischen Leistung.