„Egal, was man tut: Man ist der Ausländer“ Wie Erdal Macit (43) Vorurteile erlebt - und sich Akzeptanz erkämpft

„Wenn mich jemand Ausländer nennt, verletzt mich das“: Wie Erdal Macit mit seiner Kneipe Vorurteile abbaut
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Ende 2016 starb in Selm-Bork etwas. In dem kleinen Ort am Rande des Münsterlandes schloss die letzte Kneipe. Gemeinsam überlegte man, was man tun könne. Vereinsvorsitzende, Mitglieder, alle trafen sich zu einer großen Sitzung.

Die große Frage: Wer ist bereit, eine Kneipe wiederzubeleben?

Im Raum habe Stille geherrscht, erinnert sich Erdal Macit. Dann hob er die Hand und sagte: „Ich bin vielleicht für viele kein Borker, aber ich fühle mich als Borker, meine Kinder sind hier geboren. Ich bin bereit, meine Räumlichkeiten im Haus Dörlemann zur Verfügung zu stellen.“

Die Leute begannen zu überlegen: Wo bekommen wir eine Theke her, woher das Bier, was ist mit Stühlen? Am Ende kriegen sie alles organisiert, aber damals gab es auch welche, die sagen: „Zum Türken gehen wir nicht.“

Erdal Macit ist 2009 nach Bork gekommen. Mittlerweile hat der 43-Jährige einen deutschen Pass und einen türkischen. Er selbst sagt aber, er sei Kurde. „Viele Deutsche unterscheiden da aber nicht.“

„Wenn mich jemand Ausländer nennt, verletzt mich das“

Der Familienvater hat ins „Haus Dörlemann“ eingeladen. Den Mantel lässt er auch drinnen an. Es ist kalt, denn die Kneipe hat an einem Montag geschlossen. Vor kurzem saß hier noch eine große Beerdigungsgesellschaft. Etwa 80 Menschen waren da. Das „Haus Dörlemann“ ist aber nicht nur Anlaufpunkt bei traurigen Anlässen.

„Ein paar Leute gibt es noch, die nicht kommen, weil ich anders aussehe“, sagt Erdal Macit. „Aber die sind schon lange nicht mehr in der Mehrheit.“ Und viel mache er sich auch nicht daraus, Rassisten wolle er ohnehin nicht in seiner Kneipe haben. Aber wie ihn Menschen wahrnehmen, das sei natürlich ein Thema für ihn.

„Wenn mich jemand Ausländer nennt, verletzt mich das“, sagt Erdal Macit. „Ich möchte nicht wegen meines Aussehens abgestempelt werden.“

Denn bei vielen Menschen beinhalte das negative Zuschreibungen. „Kriminalität, Zugehörigkeit zu Clans, Drogen“, da seien die Vorurteile. Gesellschaftliche Probleme würden pauschal abgewälzt. „Egal, was man tut, man ist der Ausländer und das verletzt einen.“

1879 wird das "Haus Dörlemann" errichtet. Im Jahr 2011 wurde der Gaststättenbericht aufgegeben.
1879 wird das "Haus Dörlemann" errichtet. Im Jahr 2011 wurde der Gaststättenbetrieb aufgegeben. © Sylvia vom Hofe (Archiv)

Aber es gebe eben auch einen Unterschied in der Wahrnehmung. „Ausländer ist gleich Türke oder Araber. Wird man dieser Gruppe zugeordnet, wird man mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Manche Griechen, Italiener, Spanier sehen vielleicht auch aus wie Türken und sind auch Ausländer“, sagt Macit. Sie würden aber anders wahrgenommen. „Wenn Deutsche mit diesen Gruppen nach Gemeinsamkeiten suchen wollen, können sie sagen: Wir sind alle Europäer. Das verbindet. Türken, Kurden und Araber sind das nicht.“

18 Monate Untersuchungshaft in der Türkei

Wenn Erdal Macit darüber spricht, dann verschwindet der Ton, der eigentlich immer mitschwingt, wenn er erzählt. Es klingt dann meist so, als hätte er ein Lächeln auf dem Gesicht. Bei diesem Thema nicht.

Wie es ist, zu Unrecht kriminalisiert zu werden, weiß Erdal Macit noch aus der Türkei.

An seiner Universität war er Vorsitzender eines Studentenvereins. Er setzte sich für Vorlesungen in kurdischer Sprache ein, für günstiges Mensa-Essen. „Wir waren laut. Die türkische Regierung hat uns als Opposition angesehen“, sagt der 43-Jährige. Er war zu unbequem. 2002 wurde er festgenommen. 18 Monate habe er ohne Anklage in Untersuchungshaft gesessen.

Das freiheitliche Deutschland weiß er gegenüber den Repressionen in der Türkei zu schätzen, pauschale Vorwürfe, Ausländer seien krimineller, machen ihn hier aber wütend.

Vor allem junge Männer werden kontrolliert

Trotz dieser Zuschreibung „Ausländer ist gleichbedeutend mit kriminell“ sei er von der Polizei noch nie kontrolliert worden. Das mag an dem kleinen Bork liegen oder kann andere Gründe haben.

Denn dass vor allem junge Menschen mit ausländischen Wurzeln andere Erfahrungen machen, zeigt eine repräsentative Untersuchung des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR). In diesem kürzlich veröffentlichten Studie berichten 18,4 Prozent der Männer im Alter zwischen 15 und 34 Jahren, die nach eigener Einschätzung aufgrund äußerlicher Merkmale von ihren Mitmenschen als ausländisch wahrgenommen werden, sie seien in den vergangenen zwölf Monaten von der Polizei kontrolliert worden.

Von jungen Männern, die von ihrer Umwelt nach eigenem Bekunden als Menschen ohne ausländische Wurzeln eingeschätzt werden, betraf dies lediglich 11,9 Prozent.

Laut Bundeszentrale für politische Bildung lebten im Jahr 2022 rund 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Mit 2,8 Millionen Personen und einem Anteil von rund 11,9 Prozent stammt die größte Gruppe aus der Türkei. 2022 hatten in Deutschland 41,6 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund.

Tagsüber Lehrer, abends der Wirt des Dorfes: Erdal Macit bei der Arbeit.
Tagsüber Lehrer, abends der Wirt des Dorfes: Erdal Macit bei der Arbeit. © Lukas Wittland

„Selbst, wenn du einen deutschen Pass hast, bist du für viele niemals ein richtiger Deutscher“, sagt Erdal Macit. „Bei Telefongesprächen ist egal, wie perfekt man Deutsch spricht: Sobald man seinen Nachnamen nennt, ändert sich häufig der Ton.“

Er kenne viele, die mit verheiratet sind, und den deutsch klingenden Nachnamen der Frau angenommen haben, um dem zu entgehen. Das passe auch nicht zum Bild der „stolzen Südländer“, das vorherrsche, sagt Erdal Macit.

Erdal Macit gibt Flüchtlingen Deutschunterricht

Wegen seiner Frau, einer gebürtigen Lünerin mit türkischen Wurzeln, ist er nach Deutschland gekommen. Sie haben drei gemeinsame Kinder im Alter von sieben bis 13 Jahren, zwei Mädchen, einen Jungen.

Erdal Macit ist Grund- und Realschullehrer. Er unterrichtet Türkisch, Mathematik und Sachunterricht. Er ist SPD-Mitglied und sitzt im Rat der Stadt Selm.

Als im Jahr 2015 im kleinen Bork mit rund 7000 Einwohnern hunderte Geflüchtete auf dem Gelände der Polizei für Aus- und Fortbildung untergebracht wurden, bot Erdal Macit Sprachkurse und Orientierung im „Haus Dörlemann“ an. Die Tafel hängt noch immer im hinteren Teil des Raums. Die Bereitschaft zu helfen sei groß gewesen, nicht bei allen, aber Menschen seien offen gewesen und hätten mit angepackt.

Erdal Macit (l.) bei einer Spendenaktion für Geflüchtete.
Erdal Macit (l.) bei einer Spendenaktion für Geflüchtete. © Archiv

Als er 2009 selbst nach Deutschland kam, hat er nachts in einem türkischen Restaurant in der Dortmunder Nordstadt gearbeitet. Tagsüber besuchte er Deutschkurse bei der Auslandsgesellschaft. Drei Stunden habe er im Schnitt in dieser Zeit geschlafen, erzählt der 43-Jährige.

„Ohne Arbeit und die Sprache geht es nicht“

Nach elf Monaten habe er eine Stelle als Vertretungslehrer an einer Schule bekommen. Als die Schulleitung ihn sprechen hörte, habe sie damals genau auf die Unterlagen geschaut und nachgefragt, ob es richtig sei, dass er erst elf Monate im Land sei, erinnert sich Macit. Er ist stolz darauf, dass er so schnell eine Stelle gefunden hat, sagt aber auch: „Anerkennung bekommt man in Deutschland nur, wenn man arbeitet. Ohne Arbeit und die Sprache geht es nicht.“ Auch das hat ihn angetrieben.

„Gibt es in der Türkei auch Unis?“, sei er einmal irritiert gefragt worden, als er von seinem Leben in der Türkei erzählt habe, sagt Erdal Macit. Ein anderer habe gefragt, ob in der Türkei die Sahara anfange.

Er war sich nicht sicher, ob sein Gegenüber gerade einen Witz machte und reagierte mit einem Scherz: „Wir fahren mit unserem Mercedes bis zum Bosporus. Da ist dann ein riesiger Parkplatz und da steigen wir dann auf unsere Kamele und reiten Richtung Naher Osten.“ Der andere Mann habe das geglaubt. „Das muss man sich mal überlegen: Du weißt noch nicht mal, wo ein Land liegt, aber du hast eine Meinung zu den Menschen, die daher kommen.“

Kneipe und Kulturschock

Eine Heimat zu verlassen, sei nicht so einfach, sagt Erdal Macit. „Das haben viele noch nicht so richtig verstanden.“ Und eine neue Heimat zu finden, ist auch nicht leicht. Es kann auch einen Kulturschock auslösen.

Aus einer Vitrine im Haus Dörlemann lächeln einem auf Fotos die Königspaare der Bürgerschützengilde aus mehreren Jahrzehnten entgegen. An der Wand gegenüber hängt ein Schild, das Bork noch im Kreis Lüdinghausen verortet.

Seit der Gebietsreform ist es seit 1975 ein Stadtteil von Selm. Bork war immer eher ländlich, Selm wegen der Zeche Hermann industriell geprägt, Bork eher rechts-konservativ, Selm links-arbeiterbewegt. Während die Menschen in Selm schon lange gewohnt waren, Zuwanderer durch die Zeche zu integrieren, waren die Borker lange unter sich geblieben. „Es ist nicht ganz leicht, hier anzukommen“, sagt Erdal Macit.

An der Wand im "Haus Dörlemann" wird Bork noch im Kreis Lüdinghausen verortet.
An der Wand im "Haus Dörlemann" wird Bork noch im Kreis Lüdinghausen verortet. © Lukas Wittland

Obwohl er erst seit 2009 hier lebt, hat er den Zwist zwischen den Orten übernommen. „Die Eingemeindung ist eine katastrophale Situation“, sagt er und schmunzelt.

Eine Frage der Zugehörigkeit

Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen untersucht seit Jahren das Zugehörigkeitsgefühl von türkeistämmigen Menschen in NRW und stellt eine Verbundenheit zu beiden Ländern fest. Im Jahr 2019 gaben 88 Prozent der Befragten an, sich sehr oder eher stark zur Türkei zugehörig zu fühlen, gleichzeitig fühlten sich 78 Prozent sehr oder eher stark zu Deutschland zugehörig. Wurde Diskriminierung erfahren, ist der Grad der Zugehörigkeit zu Deutschland geringer.

Wie stark die Verbundenheit zur Türkei oder zu beiden Ländern gleichzeitig ist, bewegt sich im Verlauf der vergangenen 20 Jahre in Wellen. Zum Teil könne man diese Entwicklungen an gesellschaftlichen Debatten nachzeichnen, sagt Dr. Martina Sauer vom ZfTI.

„Nach dem Buch vom Thilo Sarrazin und der anschließenden Diskussion sank bei den türkeistämmigen Befragten die Heimatverbundenheit zu beiden Ländern und die alleinige Verbundenheit zur Türkei nahm zu.“ Ähnlich sei es gewesen, als sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei verschlechtert haben.

Eine aktuelle Zuspitzung bei der Sprache über Zuwanderung könnte das Heimatgefühl weiter in Richtung Türkei ausschlagen lassen, glaubt Martina Sauer. Im Jahr 2019 sahen 43 Prozent der Befragten in erster Linie, die Türkei als Heimat, 18 Prozent zuerst Deutschland und 35 Prozent empfinden heimatliche Gefühle gegenüber beiden Ländern.

„Kneipe ist nicht nur ein Ort, an dem man säuft“

Wenn Erdal Macit über Heimat spricht, dann spricht er über Bork und sagt, in der Türkei sei seine zweite Heimat. So wie er es sagt, klingt es nicht nach einer Abstufung, sondern nach einer Nebeneinanderstellung. Und das hat sicherlich auch mit der Kneipe zu tun. „Kneipe ist nicht nur ein Ort, an dem man säuft“, das hat Macit schnell verstanden.

„Es ist vor allem ein Ort der Begegnung, auch der unterschiedlichen Kulturen.“ Während Geflüchtete im Nebenraum Ramadan feierten, tranken die Borker ihr Bier. Beim Rauchen hätten sich dann alle getroffen.

„Dadurch haben die Leute gemerkt, das sind ganz normale Menschen, vielleicht sprechen sie nur noch nicht so gut Deutsch.“ Kontakthypothese nennt sich das in der Soziologie. Treffen Zuwanderer und Einheimische aufeinander, so die These, werden Vorurteile tendenziell eher abgebaut.

Macit sagt heute: „90 Prozent der Borker nehmen uns wie wir sind und würden uns nicht als Ausländer bezeichnen.“

Seine älteste Tochter (13) fühlt sich als Muslimin. Erdal Macit selbst bezeichnet sich als Atheist. Wenn seine Tochter Kopftuchtragen möchte, dann hat er da kein Problem mit, auch wenn er weiß, dass es in Deutschland immer noch mit Vorurteilen behaftet ist. „Im Münsterland ist das vielleicht auch eher ein Problem als im Ruhrgebiet“, glaubt der Vater. Aber muslimisch zu sein, bedeute eben auch nicht zwangsläufig, Kopftuch zu tragen.

Seine anderen Kinder interessieren sich nicht für Religion. Aber Weihnachten finden sie alle toll. Sie sollen sich nicht ausgeschlossen fühlen und so stellen die Macits auch in diesem Jahr wieder einen Weihnachtsbaum auf.

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