Alles auf Anfang

Ruhrtriennale

Johan Simons hat von Heiner Goebbels den Staffelstab als Intendant der Ruhrtriennale übernommen. Unter dem Motto "Seid umschlungen" will er alle Schichten des Ruhrgebiets erreichen und neu darüber nachdenken, warum man Kunst in alten Industriehallen macht. Wie, das erklärt er Max Florian Kühlem im Interview.

GELSENKIRCHEN

, 02.08.2015, 14:05 Uhr / Lesedauer: 3 min
Johan Simons möchte die Kunstfreunde an die Hand nehmen. Er setzt auf Gespräche.

Johan Simons möchte die Kunstfreunde an die Hand nehmen. Er setzt auf Gespräche.

Ihr Motto "Seid umschlungen" erinnert mich an das Detroit-Projekt des Bochumer Schauspielhauses. Dabei hing am Bergbau-Museum der Schriftzug "How Love Could Be". Braucht das Ruhrgebiet gerade liebevolle Gesten?

Man muss das Ruhrgebiet lieben. Aber wer bin ich, mich so arrogant zu benehmen, dass ich von außen komme und sage: Es braucht eine liebevolle Geste? Allerdings machen wir dieses Festival für viele Leute. Das ist mir wichtig. Ich wollte immer Theater machen für Leute, die niemals ins Theater kommen. Aber: Ich möchte das tun mit hoher Kunst.

Wie wollen Sie erreichen, dass nicht doch wieder nur die Kultur-Elite zur Ruhrtriennale kommt?

Die Kultur-Elite wird sowieso kommen - aus aller Welt. Ich hoffe das sogar: je mehr Publikum desto besser. Aber wenn man die Themen anguckt, die wir setzen, zum Beispiel von meiner Eröffnungsinszenierung "Accattone", in der es um das Thema Arbeit geht.

Es ist die Adaption eines Films von Pasolini, der für mich sehr politisch ist. Accattone ist ein Taugenichts und fragt die Leute: Warum gehst du arbeiten? Was soll das? Da hat er natürlich ein bisschen Recht, denn Arbeit wird immer knapper. Die Gesellschaft muss nachdenken: Was bedeutet sie uns? Kann man seinen Eigenwert, seine Identität auch auf eine andere Weise definieren als über die Arbeit?

Kann sie das?

Ich habe da keine Antwort drauf, aber es ist doch eine wichtige Frage. Das Subproletariat, von dem Pasolini spricht, existiert heute wieder: Es gibt Menschen, die keinen Zugang zur Gesellschaft haben. Wenn ich die Geschichte der Migranten sehe: Wir haben sie nicht mitgenommen, sondern einfach losgelassen. Wir haben einfach gesagt: Die haben ja ihre eigene Kultur - und ihnen keinen Zugang zu unserer Kultur gegeben.

Erreichen Sie diese Menschen allein durch solch eine Themensetzung?

Nein, ich gehe auch auf die Leute zu. Im Fall von "Accattone" sind wir in der Zeche Lohberg in Dinslaken. Lohberg ist eigentlich ein tolles, grünes Viertel. Es ist aber ein Viertel mit extremen Spannungen, hier gab es sogar eine Gruppe Salafisten. Der stellvertretende Bürgermeister, Herr Yildiz, ein sehr kluger Mann, hat uns einen Brief geschrieben: "Was soll das heißen ‚Seid umschlungen'? Ich fühle mich nicht umschlungen." Gestern habe ich ihn getroffen und hatte ein tolles Gespräch, das mich in meinem Vorhaben für die drei Jahre meiner Intendanz bekräftigt hat, die Leute an die Hand zu nehmen - besonders Kinder.

Wie gehen Sie auf die Kinder zu?

Es gibt die "Jungen Kollaborationen", ein Programm, in dem wir mit jungen Menschen und Schulen zusammenarbeiten. Ich werde zum Beispiel Grundschulklassen aus Lohberg in das Stück "Sturzflug" von Studio Orka einladen. Es erzählt von einem Mann, der allein am Rhein lebt und Müll sammelt - Gegenstände, die die Menschheit nicht mehr braucht. Eines Tages begegnet ihm ein Mädchen und er entdeckt etwas sehr kostbares: Freundschaft. Ich möchte die jungen Menschen damit rausholen aus ihrer Komfortzone.

Es ist ein Thema Ihrer gesamten künstlerischen Laufbahn, Orte an der Peripherie zu suchen. Warum passt die Zeche Lohberg ins Programm?

Ich darf ganz unbescheiden sagen, dass ich zu den Erfindern des Konzepts gehöre, Kultur in Industriehallen zu zeigen. Das haben wir mit meiner Truppe Hollandia schon 1985 gemacht, ich glaube wirklich als die Ersten in Europa. Bei diesen Hallen spielen die Realität des Ortes und seine Geschichte immer mit. Ich sperre auch nie das Tageslicht aus, indem ich alles abhänge.

Wenn man an Pasolini denkt, der immer über den Menschen in der Wüste spricht - das passt perfekt. Ich zeig Ihnen die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg mal hier auf meinem Smartphone…

Sehen Sie: Das ist eine Wüste. Ich versuche, jedes Jahr eine neue Halle dazu zu holen, damit man die bekannten Hallen auch noch mal auf eine andere Weise liest. Ich möchte die alte Frage wieder neu stellen: Warum spielen wir an diesen Orten?

Gerard Mortier, der erste Intendant der Ruhrtriennale war Ihnen ein großes Vorbild. Was ist von seiner Handschrift noch vorhanden?

Die Jahrhunderthalle Bochum ist seine große Entdeckung gewesen. Sie ist immer noch ein großes Zentrum des Festivals. Dass die Umgebung fast eine größere Rolle spielt, als das Stück selbst, dass man mit Architektur und Tageslicht arbeitet, war auch sein Prinzip.

Er war jemand mit einem sehr breiten und humanistischen Blick auf die Welt, jemand, der unendlich viel wusste. Er könnte der Bruder von Kant gewesen sein, eine Art Universalgenie.

Mortier hat den Begriff der "Kreation" geprägt - und auch Ihr Vorgänger Heiner Goebbels hat gesagt, am liebsten würde er Kategorien wie "Theater", "Konzert" oder "Bildende Kunst" einfach abschaffen und nur noch Kunstwerke anbieten. Wie sehen Sie das?

Ich finde, dass Heiner Goebbels da recht hat. Wir nennen das zwar nicht "Kreation", aber man spürt es bei der Ruhrtriennale, das die Grenzen fließen, dass man wieder wesentliche Fragen über die Kunst, das Theater stellt. Es geht alles durcheinander.

 

Die Ruhrtriennale geht vom 14. August bis 26. September. Tickets gibt es unter Tel. (02 11) 28 02 10 oder im Internet.