AGR: In die Zukunft mit Wald und Wasserstoff
Wasserstoff
Vor zehn Jahren wagte man bei der AGR kaum den Blick in die Zukunft. Die Beinahe-Pleite war noch sehr präsent. Heute hat das Unternehmen keine Schulden mehr, dafür große Wasserstoffpläne – und einen Wald.

Die AGR im Hertener Süden: in der Mitte das Abfallkraftwerk, bestehend aus RZR I (blau) und RZR II (grün), unten links die Energiezentrale zur Auskopplung von Strom und Fernwärme. © AGR
Nachdem frühere Manager mit dem Versuch gescheitert waren, die öffentlich-rechtliche Abfallentsorgungs- Gesellschaft Ruhrgebiet (AGR) zu einem international tätigen Mischkonzern hochzurüsten, rettete Dietrich Freudenberger († Juli 2020) den zweitgrößten Arbeitgeber Hertens in letzter Sekunde vor der Insolvenz.
An diesen Kraftakt knüpfte Nachfolger Joachim Ronge in den vergangenen zehn Jahren mit einer Erfolgsgeschichte an, die ebenfalls nicht frei von visionärem Wagemut ist, jedoch auf eine nachvollziehbare, bodenständige Weise.
Einen „Vorrat an Zukunft“ anlegen
Ronge kommt stets schnörkellos daher, ist ein Freund klarer Worte. Doch dem 68-Jährigen steht eine geradezu kindliche Faszination ins Gesicht geschrieben, wenn er über den „Vorrat an Zukunft“ spricht, den er gemeinsam mit den rund 960 Mitarbeitern der AGR-Gruppe anlegen möchte. Beispiel: 200 Hektar Wald hat die AGR der Ruhrkohle AG in Dorsten und Haltern am See abgekauft. Heute machen die sich gut in Image-Broschüren. Doch wenn womöglich der Gesetzgeber eines Tages die Kompensation des CO2-Ausstoßes fordert, dann könnte die AGR ihre eigene grüne Lunge in die Waagschale werfen.
Weniger visionär ist die Entwicklung der AGR zum Wasserstoff-Versorger. Bereits ab 2022 sollen bei der Müllverbrennung im RZR jährlich 400.000 Kilo „grüner“ (klimaverträglicher) Wasserstoff erzeugt werden, die vor Ort an einer öffentlichen Tankstelle für Pkw und Lkw zur Verfügung stehen. „Sämtliche Wasserstoff-Müllwagen, die Siedlungsabfälle anliefern, und die Flotte unserer Tochter AGR-DAR können bei uns betankt werden“, kündigt Joachim Ronge an. Dahinter steht die Mission, die Logistik-Branche von fossilen Treibstoffen zu befreien.
Daten und Fakten zur AGR
- Die 1982 gegründete Abfallentsorgungs-Gesellschaft Ruhrgebiet (AGR) mit Sitz in Herten ist eine hundertprozentige Tochter des Regionalverbands Ruhr (Verbund der Städte und Kreise im Ruhrgebiet).
- Zur AGR-Gruppe gehören u.a. das RZR (Müllverbrennung/Abfallkraftwerk) sowie die Töchter DAR (Wertstoff-Recycling, Containerdienst), Lambda (Energie aus Grubengas) und KAKO (Verwertung/Entsorgung flüssiger Sonderabfälle). Mitarbeiter: 960, darunter 50 Auszubildende. Jahresumsatz: rd. 200 Mio. Euro.
- RZR I (1982 erbaut) und RZR II (2009) beseitigen mit vier Verbrennungslinien für Siedlungsabfälle („Hausmüll“) und zwei für Sonderabfälle pro Jahr bis zu 700.000 Tonnen Müll.
- Durch riskante Geschäfte („Cross-Border-Leasing“) und verlustreiche Verkäufe (Baufirma Brochier) droht der überschuldeten AGR 2007 die Insolvenz.
Was Ronge stolz macht: Die drei Megawatt Strom, die pro Jahr für die Wasserstoffproduktion benötigt werden, muss die AGR nicht von der Lieferung an die Hertener Stadtwerke abziehen. „Wir schaffen es, uns diese Energie durch Effizienzsteigerungen – etwa bei Pumpen und Beleuchtung – selbst aus den Rippen zu schneiden“, betont Ronge die außerordentliche Team-Leistung. Die AGR verfüge über fünf Wasserstoff-Autos, er selbst fahre seit anderthalb Jahren mit diesem Gas, erzählt der 68-Jährige – und hat wieder diese Begeisterung in den Augen: „Ich bin total happy! Ich war 2019 sogar mit Wasserstoff in Wien.“
Als Geschäftsführer hat er im Unternehmen eine zuvor so nicht gekannte Kultur der Wertschätzung und des Vertrauens etabliert. Das spricht sich herum. Jede Stellenausschreibung löst eine Flut von Bewerbungen aus.
Joachim Ronge blickt zurück: „Vor zehn Jahren waren unsere Zahlen tiefrot. Externe Berater waren im Haus, die einen Personalabbau auf das Minimum empfahlen.“ Ronge verzichtete stattdessen auf die Berater, entwickelte mit der gesamten Mannschaft eine Vorwärts-Strategie vom Müll-Entsorger hin zum Energie-Erzeuger, zahlte die Schulden sowie die Kredite für das 150 Millionen Euro teure RZR II zurück. Von dem Strom und der Fernwärme, die in den sechs Verbrennungslinien des Abfallkraftwerks erzeugt werden, profitiert heute die ganze Region.
2 Millionen Euro für die Stadt Herten
Seit 2014 schreibt die AGR wieder schwarze Zahlen. Aktuell ist der Punkt erreicht, an dem das Unternehmen schuldenfrei ist und erstmals Gewerbesteuern in Höhe von 2 Millionen Euro an die Stadt Herten überweist.
Die Coronakrise hat den Aufwärts-Trend nicht gestoppt. Rückgänge im Gewerbemüllbereich und sogar einen 300.000-Euro-Verlust im Zuge der Karstadt-Insolvenz steckte die AGR weg. Durch „Home Office“ und Urlaubsabbau wurde Kurzarbeit verhindert, durch regelmäßige Rundschreiben an die Belegschaft die Kommunikation weiter verstärkt, die Transparenz erhöht. Als Dankeschön und „Stimmungsaufheller“ beim ersten Lockdown gab es für Mitarbeiter und Anlieferer Eis, Kekse, Blümchen und Kinderbücher – gekauft bei Geschäften vor Ort in Herten, Recklinghausen, Herne und Gelsenkirchen.
Einen „Vorrat an Zukunft“ schaffen – dabei geht es auch um weniger erfreuliche Themen wie die Deponie-Kapazitäten im Ruhrgebiet. Sie sind in absehbarer Zeit aufgebraucht. Für Bauschutt ist dann ebenso kein Platz mehr wie für Schlacke aus der Müllverbrennung. Doch mit Plänen, die Zentraldeponie Emscherbruch in Gelsenkirchen zu erhöhen oder Halden in Dorsten und Marl zu erschließen, stößt die AGR auf Widerstände. Ronge: „Wir betreiben die Deponien nicht für uns, sondern im öffentlichen Auftrag für die Städte und die Bürger. Wenn ein altes Industrieareal abgerissen wird, um Gewerbeflächen zu schaffen, müssen trotz Recyclings die nicht verwertbaren Reste irgendwo hin. Trotzdem wurden wir von Deponiegegnern als Verbrechergesellschaft bezeichnet. Für die Mannschaft ist das schwer auszuhalten.“
Bis Ende 2021 soll ein/e Nachfolger/in für Joachim Ronge gefunden sein, den/ die er dann bis Ende 2022 begleitet. Einmal mehr leuchten seine Augen: „Ich wäre gerne zehn Jahre jünger. Ich habe noch so viel Lust auf Neues! Viele Ersatz-Investitionen stehen an, das RZR I ist 40 Jahre alt. Gemeinsam mit meinem Geschäftsführer-Kollegen Stephan Kaiser, mit der Führungsmannschaft und den Betriebsräten legen wir jetzt für die AGR einen Vorrat an Zukunft an. Umsetzen muss das die Generation nach mir.“