Ärger um Facharzt-Termine Ein Termin für Kassenpatienten, Dutzende für privat Versicherte

Ärger um Facharzt-Termine: Ein Termin für Kassenpatienten, Dutzende für privat Versicherte
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Wer gesetzlich versichert ist, kennt das Gefühl. Da braucht man einen Termin beim Facharzt, klappert eine Praxis nach der anderen ab und dennoch muss man am Ende wochen-, nicht selten monatelang warten. Und dann erzählt einem der privat versicherte Nachbar, dass er innerhalb von drei Tagen einen Termin bekommen hat.

Das sind die Momente, in denen die Wut hochkocht. Auf die Ärztinnen und Ärzte, die doch augenscheinlich die lukrativen Privatpatienten bevorzugen, und auf das Gesundheitswesen im Allgemeinen. Wie berechtigt ist die Wut?

Gehen wir der Sache an einem konkreten Beispiel auf den Grund. Ab einem gewissen Alter ist es sinnvoll, sich als Teil der Krebsvorsorge bei einem Facharzt einer Darmspiegelung zu unterziehen. Im Medizinerdeutsch heißt das Koloskopie.

Solche Darmspiegelungen bietet beispielsweise das Medizinische Versorgungszentrum „Portal10“ in Werne an. Inhaber von „Portal 10“, das Standorte in Münster und Werne betreibt, sind sechs niedergelassene Fachärzte. Es ist also keine ganz kleine Einrichtung. Sie ist modern organisiert. Termine kann man online buchen.

Ein Termin für eine Darmspiegelung als Testballon

Am Dienstag (16. Mai) versuchen wir, vormittags einen Termin bei Portal 10 für eine Darmspiegelung in Werne zu bekommen. Das ist im Prinzip sehr einfach. Als erstes fragt das Online-Formular, ob man gesetzlich oder privat versichert ist. Klickt man „gesetzlich“ an zeigt der Computer den einzigen freien Termin innerhalb der nächsten drei Monate: am 14. August. Das heißt: drei Monate Wartezeit.

Terminkalender Kassenpatient
So sah das Buchungsportal für gesetzlich Versicherte aus, die einen Termin für eine Darmspiegelung im Portal 10 in Werne suchen: Im Mai gibt es keinen Termin mehr, auch nicht im Juni oder Juli. Erst am 14. August gäbe es noch einen. © Ulrich Breulmann

Klickt man dagegen „privat versichert“ an, erhält man innerhalb der nächsten drei Monate bis zum 16. August verschiedene Terminvorschläge an 22 Tagen. Der erste Termin wäre bereits am 22. Mai buchbar, also in weniger als einer Woche. Wie kann das sein, dass privat und gesetzlich Versicherte so eklatant ungleich behandelt werden?

Terminkalender Privatpatient
So sähe der Terminplaner für Privatversicherer aus: Nächster freier Termin am 22. Mai, danach folgen bis Mitte August 21 weitere Tage mit freien Terminen. © Ulrich Breulmann

Wir stellen diese Frage Gerhard Haneklau. Er ist Geschäftsführer von Portal 10. Er reagiert mehr als verärgert, als er diese Frage hört. Mehr noch. Er ist geradezu empört. Ganz offenbar hört Haneklau in dieser Frage den Vorwurf mitschwingen, seine Praxis bevorzuge Privatpatienten und mache es Kassenpatienten schwer. Einen Vorwurf, dem er sich, wie er später erzählt, immer wieder von Patienten gefallen lassen müsse. Und das völlig zu Unrecht, wie er sagt.

„Wir dürfen nicht mehr Termine anbieten“

„Wir können doch nichts dafür“, sagt Haneklau. „Wir bieten nicht mehr Termine für gesetzlich Versicherte an, weil wir nicht mehr anbieten dürfen.“ Und dann verweist er auf all die vielen Regelungen in unserem Gesundheitswesen, die man kennen müsse, um das zu verstehen. „Für das System sind wir doch nicht verantwortlich. Das darf man uns doch nicht vorwerfen“, echauffiert sich Haneklau.

Als sich seine Entrüstung ein wenig gelegt hat, erklärt er, wo aus seiner Sicht das Problem liegt. Dabei spielen zwei Dinge eine zentrale Rolle: der Versorgungsauftrag und Plausibilitätszeiten.

Der Versorgungsauftrag ist grob gesagt der Vertrag, den ein Arzt mit den gesetzlichen Krankenkassen schließt. Ohne einen solchen Vertrag, ohne eine solche Kassenzulassung kann ein Arzt Leistungen für einen Kassenpatienten überhaupt nicht abrechnen.

Für einen vollen Vertrag muss ein Arzt, so erklärt es die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL) auf Anfrage, mindestens 25 Stunden pro Woche Sprechstundenzeiten für Kassenpatienten anbieten. Bei einem Teilzeit-Vertrag gibt es eine entsprechend reduzierte Sprechstundenauflage. „Wir erfüllen unseren Versorgungsauftrag bis an unsere Grenzen“, versichert der Portal-10-Geschäftsführer Haneklau.

Eine weitere Grenze setzt dabei die sogenannte Plausibilitäts- beziehungsweise Auffälligkeitsgrenze. Das bedeutet: Bei einem vollen Versorgungsauftrag darf ein Arzt maximal 780 Stunden pro Quartal an kassenärztlichen Leistungen, die nach Zeit bemessen werden, abrechen. Das sind rechnerisch bei fünf Arbeitstagen pro Woche 12 Stunden am Tag, so heißt es aus der Pressestelle des KVWL.

12 Stunden am Tag? Vereinfacht gesagt, ist das eine theoretische Größe. Dazu muss man wissen, dass es für jede medizinische Tätigkeit einen „Einheitlichen Bewertungs-Maßstab“ (EBM) gibt. Danach werden ärztliche Leistungen vergütet. Bestimmten Tätigkeiten wird dabei auch eine „Richtzeit“ zugeordnet. Sie sagt wenig über die tatsächliche Dauer einer Tätigkeit aus, wird aber für die Plausibilitätsüberprüfung hinterlegt.

Die Folge: Praxis ist permanent ausgebucht

Wenn diese Plausibilitäts-Obergrenze überschritten werde, erfolge eine genau Prüfung durch die KVWL. Stelle man Abrechnungsverstöße fest, könne die KVWL Honorare zurückfordern, gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren einleiten oder einen Vorgang zur Prüfung an die Staatsanwaltschaft weiterleiten.

Diese Umstände, so versichert Haneklau, „dass wir nicht mehr Leistungen innerhalb eines Quartals erbringen dürfen, als die, die wir anbieten, haben nicht wir zu verantworten. Wir sind beim Maximum dessen, was wir zulassungsrechtlich dürfen.“

Die Folge sei der für Kassenpatienten ärgerliche Engpass im Terminkalender. Portal 10 plane immer für drei Monate im Voraus. „Mehr macht keinen Sinn, da wir ja auch flexibel bleiben müssen“, sagt Haneklau: „Wir schalten also immer für drei Monate den Kalender frei. Das heißt: Heute gibt es neue Termine für heute in drei Monaten, morgen solche für morgen in drei Monaten.“

Um einen dieser Termine zu bekommen, könne er nur raten, sich morgens sehr früh zu informieren, ob und wann neue Termine frei sind. „Es werden ja auch mal Termine abgesagt oder verschoben. Sobald das klar ist, schalten wir auch die frei gewordenen Termine frei.“

„Wir sind im ambulanten System an der Grenze“

Und wenn alle Termine, die man für gesetzlich Versicherte aufgrund der Zulassung anbieten dürfe, vergeben seien, bleibe immer noch Zeit übrig: „Dann gehen unsere Ärztinnen und Ärzte aber nicht nach Hause, sondern arbeiten weiter. Das sind dann die Zeitfenster für Privatpatienten. Deshalb haben Sie recht: Dieses System führt dazu, dass Sie bei einem Privatpatienten vielleicht übermorgen einen Termin finden, für Kassenpatienten aber alle uns zur Verfügung stehenden Termine ausgebucht sind. Was sollen wir tun?“, fragt Haneklau. „Das liegt nicht an der Gier der Ärzte, sondern das ist ein Fehler im System. Wir sind im ambulanten System an der Grenze.“

Selbst wenn er heute einen neuen Arzt mit einer kassenärztlichen Zulassung einstelle, dauere es „ungefähr zwei Wochen, bis der komplett für drei Monate ausgebucht wäre“, sagt Haneklau.

Fachärzte dürften Patientinnen und Patienten – außer in Notfällen – in begründeten Fällen ablehnen, erläutert Stefan Kuster, Pressesprecher der KVWL, auf Anfrage. Ein solcher Grund könne auch sein, dass die „Kapazitäten der Praxis vorübergehend ausgeschöpft sind.“

Rund 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. In Westfalen-Lippe leben rund 8,3 Millionen Menschen, von denen demnach knapp 7,5 Millionen Menschen Kassenpatientinnen und -patienten sind.

Kein Wunschtermin beim Wunscharzt über den Terminservice

Im Jahr 2022 wurden beim KVWL genau 56.565 Darmspiegelungen von Kassenpatienten abgerechnet. Der Bedarf nach dieser ärztlichen Untersuchung ist also groß. Durchgeführt wurden diese Untersuchungen von 199 Fachärztinnen und -ärzten mit entsprechendem Versorgungsauftrag der Krankenkassen.

Übrigens: Wer beim Facharzt seiner Wahl keine Chance auf einen zeitnahen Termin hat, der kann sich auch an die Terminservicestelle der KVLW wenden. Die ist über die Telefonnummer 116.117 zu erreichen. Das Ganze hat allerdings einen Haken: „Bei dem vermittelten Termin handelt es sich nicht um einen Wunschtermin bei einem Wunscharzt“, sagt Stefan Kuster. Hier würden nur Termine an Ärzte vermittelt, die aktuell freie Kapazitäten hätten.

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