
In dieser Straße töteten am 8. August Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei den 16-jährigen Mouhamed D. Jetzt sollen Polizisten aus Recklinghausen aufklären, was genau hier geschehen ist. Kommentator Ulrich Breulmann hält das für einen kapitalen Fehler. © Fotos: Wittland, Kiwit / Collage: Dittgen
Todesschüsse auf Mouhamed D. (16): So kann die Aufklärung ja nur scheitern!
Meinung
Fünf Schüsse eines Polizisten töten den 16-jährigen Mouhamed D. in der Dortmunder Nordstadt. Die Polizei Recklinghausen soll den Fall klären. Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Kommentar.
Elf Polizisten schaffen es nicht, einen 16-Jährigen, der mit einem Messer herumfuchtelt, zu stoppen. Elf. Nicht mit Reizgas, nicht mit einem Elektro-Schocker, sondern erst mit fünf Geschossen aus einer Maschinenpistole. Mouhamed D. stirbt.
Der erste Reflex auf dieses fürchterliche und schockierende Ende ist allzu menschlich und verständlich: Wut und Empörung schlagen den Polizisten entgegen, die sich, so hat es den Anschein, dilettantisch verhalten haben. 11 gegen 1. Da ist die Frage berechtigt: Warum musste Mouhamed D. sterben?
Spielte Rassismus eine Rolle?
Noch brisanter wird die Geschichte durch die Hautfarbe des Jungen: Er stammt aus dem schwarz-afrikanischen Senegal. Hätten die Polizisten auch geschossen, wenn seine Hautfarbe Weiß gewesen wäre? Hat Rassismus dazu beigetragen, dass dieser Polizeieinsatz tödlich endete?
Das alles sind extrem unangenehme Fragen. Es war daher zu befürchten, dass die Emotionen in Dortmund und in der ganzen Republik über den schrecklichen Tod von Mouhamed D. hochkochen würden. Und zwar in zwei Richtungen: Auf der einen Seite muss sich die Polizei übelste Beschimpfungen anhören auf Demos und vor allem in den digitalen Stammtischen, die sich soziale Medien nennen.
Auf der anderen Seite stellen sich viele an die Seite der Polizisten, beklagen die zunehmende Respektlosigkeit und Gewalt gegen Polizisten, die sich ja mit Zahlen belegen lässt. Diese Rückendeckung für die Polizei ist also sicherlich berechtigt, allerdings diffamiert ein kleiner Teil dieser Gruppe gleichzeitig in rassistischer Weise pauschal die nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge.
Das bekam auch Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal zu spüren, dessen Teilnahme an der Trauerfeier für den 16-Jährigen im Netz unter anderem so kommentiert wurde: „War Herr Westphal eigentlich bei den Deutschen Familien, wenn ein Mitglied von einem Migranten getötet wurde?“
Rechte und linke Gruppe schlagen Kapital aus Mouhameds Tod
Sowohl die Verunglimpfung der Polizei als auch die rassistische Hetze gegen Flüchtlinge ist unerträglich, widerlich und durch nichts zu rechtfertigen. Dass rechte wie linke Gruppen den Tod von Mouhamed D. missbrauchen, um politisches Kapital daraus zu schlagen, ist es ebenso und macht das Ganze noch schlimmer.
Das alles ändert allerdings nichts an der Notwendigkeit, allen jetzt aufgeworfenen Fragen akribisch, unabhängig und vorurteilsfrei nachzugehen. Das große Problem an dieser Geschichte ist doch, dass die Fakten zu dem, was am Nachmittag des 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt geschehen ist, unumstößlich festzustehen scheinen. Die meisten Außenstehenden haben längst für sich alles geklärt: Ermittlungen und Beweisaufnahme abgeschlossen, Plädoyers gehalten und das Urteil gesprochen.
So aber ist es definitiv nicht. Stand jetzt gibt es noch 1000 unbeantwortete Fragen. Hier nur einige von ihnen: Wieso versagte der Taser? Wieso wurde bei diesem Einsatz überhaupt eine Maschinenpistole eingesetzt? Wer hat das angeordnet? Warum? Wurden die Vorgaben eingehalten, wann eine solche Waffe eingesetzt werden darf?
Gab es eine Fehlfunktion bei der Maschinenpistole?
Wie gut war der 29-jährige Polizist, der mutmaßlich die tödlichen Schüsse abgegeben hat, in die Handhabung der Maschinenpistole eingewiesen? War die Maschinenpistole technisch in Ordnung? Gab es möglicherweise eine Fehlfunktion, dass nicht ein Schuss, sondern sechs Schüsse ausgelöst wurden, von denen fünf Mouhamed D. trafen?
Wie stark war die Bedrohung durch das Messer, das der 16-Jährige nach allem, was man weiß, bei sich führte? Musste der 29-Jährige tatsächlich aus subjektiver Betrachtung heraus fürchten, dass durch den 16-Jährigen sein eigenes Leben oder das eines Kollegen oder einer Kollegen akut gefährdet war?
Wie war die konkrete Situation vor Ort? Wie weit waren welche Polizisten von dem 16-Jährigen entfernt? Welche Schutzausrüstung trugen sie? Gab es Deeskalationsbemühungen? Wenn ja, welche? War ein Dolmetscher vor Ort?
Welche Zeugen waren eigentlich am Ort des Geschehens? Haben sich Zeugen auf die ein oder andere Weise in den Konflikt eingeschaltet? Haben sich Zeugen mit dem späteren Opfer oder mit den Polizisten solidarisiert? Welche Erfahrungen haben die am Einsatz beteiligten Polizisten in der Nordstadt bereits gemacht? Gibt es Beamte unter ihnen, die bereits verletzt wurden? Vielleicht sogar mit einem Messer?
Wie lange hat es gedauert, bis ein Notarzt vor Ort war? Mouhamed D. war nach den bisherigen Erkenntnissen erst einen Tag vor dem verhängnisvollen Montag aus der psychiatrischen Behandlung entlassen worden. War das richtig? Wer hat das veranlasst? Welche Gefahr ging von ihm für sich und andere aus?
Der Verdacht einer Absprache als ewiger Makel
Diese und viele weitere Fragen müssen jetzt Punkt für Punkt abgearbeitet werden, bevor wir fair beurteilen können, was am 8. August wirklich geschehen ist. Die Antworten dazu soll die Kreispolizei in Recklinghausen liefern. Damit folge man dem grundsätzlichen Schema, dass in Fällen, in die Dortmunder Polizisten verwickelt sind, Kollegen aus Recklinghausen ermitteln. Umgekehrt, so teilte das Innenministerium mit, gelte das gleiche. In ganz NRW gebe es festen Regelungen, welche Dienststelle aus der Nachbarschaft für Ermittlungen bei Kollegen zuständig sind.
Das ist aus meiner Sicht ein unhaltbarer Zustand. Das gilt umso mehr, als fataler Weise zeitgleich zum Fall Mouhamed Dortmunder Polizisten aufklären müssen, warum in Oer-Erkenschwick im Kreis Recklinghausen am Tag vor Mouhameds Tod ein 39-jähriger Mann nach einem Polizeieinsatz starb.
Egal, wie gewissenhaft, neutral und sorgfältig die Polizistinnen und Polizisten aus Recklinghausen auch immer ermitteln, ihrem Ermittlungsergebnis wird immer der Makel des Verdachts einer Absprache unter Kollegen aus Recklinghausen und Dortmund anhaften. Nach dem Motto: Tust du meinem Kollegen nichts, lass ich deinen in Ruhe!
Dass sich gewissenhafte Polizisten nie auf solche Absprachen einlassen würden, spielt keine Rolle. Allein der unterschwellig im Raum schwebende Verdacht, es könnte so sein, erschüttert das Vertrauen in neutrale Ermittlungen.
Unzumutbare Lösung für den 29-jährigen Polizisten
Deshalb gilt: Die Polizei Recklinghausen kann den Tod von Mouhamed D. nicht aufklären, egal, wie professionell und korrekt sie auch immer arbeitet. Diese Aufgabe ist im Gegenteil für sie geradezu unzumutbar.
Und sie ist vor allem überhaupt nicht akzeptabel für den 29-jährigen Beamten, der mutmaßlich auf Mouhamed D. geschossen hat. Selbst wenn die Polizei Recklinghausen am Ende zu dem Ergebnis kommen würde, dass er keinen Fehler gemacht hat, müsste er für den Rest seines Lebens damit leben, dass dieser „Freispruch“ nur ein solcher zweiter Klasse wäre, weil keine wirklich unabhängige Instanz seinen Fall untersucht hat.
Bundesweites Aufklärungsteam muss her
Allein schon aus diesem Grund, um Polizisten auch in solchen Situationen zu schützen, brauchen wir völlig unabhängige Ermittler, wie es sie beispielsweise in Dänemark und Großbritannien gibt. Die müssten bundesweit eingesetzt werden. Eine Lösung innerhalb von NRW wäre keine Lösung. Ein Landes-Team hätte mit dem Innenminister noch immer denselben Dienstherren wie die Polizisten, gegen die das Team ermitteln müsste. Neutralität geht anders.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
