Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 23. April 2023.
Anette Reimann hatte Pech. Von einem Moment auf den anderen drohte sich die Netzhaut ihres Auges abzulösen. Nur eine schnelle Augen-OP Ende März konnte ihre Sehkraft retten. Inzwischen geht es langsam besser. Romane lesen darf sie aber noch lange nicht. Autofahren erst einmal besser auch nicht. „Wie gut, dass gerade rechtzeitig das 49-Euro-Ticket eingeführt wird“, freute sich die 64-Jährige. Zu früh gefreut.
Von Anette Reimanns Wohnung an der Laakstraße bis zu ihrer Arbeitsstelle in einem Büro in Lünen-Horstmar, nahe des Preußenbahnhofs, sind es um die 8 Kilometer: ein Weg, den sie bislang vorrangig mit dem Auto zurückgelegt hat. Jetzt nimmt sie den Bus. So dauert es 10 bis 15 Minuten länger als im Auto. Das sei aber kein Problem, sagt sie. Auch nicht, dass sie wegen der Taktung der Linie jetzt schon immer um 6 Uhr statt um 7 Uhr aus dem Haus müsse. Etwas anderes stinkt ihr aber gewaltig: der Vertriebsweg des 49-Euro-Tickets. Dabei wäre es für sie das ideale Angebot zur rechten Zeit.
Ein Einzelticket für den Bus würde 3,10 Euro kosten. Die Lünerin bezahlt 2,10 Euro, denn sie hat das verbilligte 10er-Ticket der Verkehrsgesellschaft des Kreises Unna gewählt - erst einmal. Zum Mai wollte sie auf das neue 49-Euro-Ticket umsteigen: eine finanzielle Erleichterung, zumal die Monatskarte für Busse und Bahnen im Nah- und Regionalverkehr in ganz Deutschland gilt.
Anders als beim 9-Euro-Ticket
Mit dem 9-Euro-Ticket, dem Vorgänger des neuen Angebots, hatte Anette Reimann 2022 gute Erfahrungen gemacht. Zwei Monate lang hatte sie es benutzt, um Ausflüge zu machen, zusammen mit einer Bekannten. Dabei war sie auf den Geschmack gekommen, wie bequem der Öffentliche Personennahverkehr doch sein könnte. Das neue, Angebot stößt ihr indes bitter auf. Nicht wegen des knapp fünfmal so hohen Preises, sondern wegen der digitalen Ausrichtung. Anders als das 9-Euro-Ticket lässt sich das 49-Euro-Ticket nur online oder über die Apps der Verkehrsunternehmen erwerben sowie über die Deutschlandticket-App: alles Wege, die Anette Reimann nicht wählen möchte. Und das nicht nur, weil sie gerade so schlecht sieht - erst recht auf dem kleinen Display ihres Smartphones.
„Ich möchte grundsätzlich meine persönlichen Bankdaten nicht im Netz haben“, sagt sie. Das habe nichts mit Fortschrittskritik zu tun, sondern mit Sicherheitsbedenken. Dass es Kriminelle bei Cyberangriffen genau auf solche Informationen abgesehen haben, sei schließlich immer wieder zu lesen, verbunden mit der Warnung, vorschnell Konto- beziehungsweise Kreditkartendateninformationen preiszugeben. Aber genau das werde jetzt bei dem mit jährlich 1,5 Milliarden Euro staatlich subventionierten Ticket in der Regel verlangt. Anette Reimann schüttelt den Kopf. Denn auch die Ausnahme von der Regel hat Tücken.

„Kommen sie zum VKU-Service vor Ort an der Engelswiese13 am ZOB in Lünen“, sagt eine freundliche Stimme, die sich unter der Telefonnummer 0800 6 50 40 49, der kostenlosen Deutschland-Ticket-Hotline, meldet. Dort lasse sich der Ticketwunsch auch analog anmelden. Und bezahlen.
Zumindest für eine Übergangsfrist bis Ende 2023 ist dieser Service vorgesehen. Das Ticket, das Digitalkunden auf ihrem Smartphone haben, erhielten Kunden dann auch als Papierticket. Das sei aber maximal nur einen Monat gültig, verlängere sich also nicht automatisch wie das digitale 49-Euro-Ticket, das im monatlich kündbaren Abonnement ausgegeben wird. Unterm Strich nennt die Frau am Telefon genau das, was sich Anette Reimann wünscht. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als sie am 11. April, dem ersten Werktag nach Ostern und nach ihrem Krankenhausaufenthalt, die VKU-Servicestelle am Lüner Busbahnhof betritt.
Print-Kauf nur bis zum 10.
Ja, sie könne dort das Ticket analog erwerben - aber nur das für Juni. Für Mai gehe das nicht mehr.“ Das sei nur bis zu jedem 10. des Monats für den Folgemonat möglich. „Es ist richtig, dass Bestellungen bis dann erfolgt sein müssen“, bestätigt Inga Fransson, Sprecherin der VKU. Das habe rein logistische Gründe: „Der Kunde muss händisch im System angelegt werden, das Ticket muss gedruckt und auf dem Postweg versandt werden.“ Damit das alles noch bis zum Beginn des neuen Monats klappe, müsse die Bestellung außerhalb der App entsprechend früh erfolgen. Langfristig gesehen handele es sich beim Deutschlandticket ohnehin um ein digitales Ticket, ergänzt Fransson: „Insofern beraten wir gerne unsere Kunden vor Ort zur Nutzung des Tickets über das Smartphone.“ Im Fall von Anette Reimann blieb diese Beratung ohne Erfolg. Und ohne 49-Euro-Ticket.
„Ich will mich einfach nicht zu einer technischen Lösung drängen lassen“, sagt die Lünerin: „Kundenfreundlich ist anders.“ Dass ab 2024, wenn die Übergangsfrist ablaufe, nur Menschen das günstige Ticket nutzen können, die ein Smartphone besitzen, „finde ich ungerecht und diskriminierend“: eine Haltung, mit der sie nicht alleine dasteht. Die Chefin des Verbraucherzentrale-Bundesverbands (vzbv), Ramona Pop, hatte bereits zum Jahreswechsel 2022/23 der Deutschen Presse-Agentur gesagt: „Wir plädieren für einen breiten Zugang zum 49-Euro-Ticket, das auf allen Vertriebswegen gekauft werden kann.“ Es kam anders.
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) sieht das Ticket aber ausdrücklich als einen wichtigen Schritt hin zur Digitalisierung. „Was wir heute beschließen, hat das Zeug, die Geschichte des öffentlichen Personen-Nahverkehrs neu zu schreiben“, sagte er in der abschließenden Bundestagsdebatte zur Einführung des Tickets. „Mit dieser Reform zeigen wir: Deutschland kann modern, Deutschland kann digital, Deutschland kann einfach.“ Und die Sorgen von Anette Reimann und den Verbraucherschützern? Niemand solle ausgegrenzt werden, hielt der Minister dagegen. Man müsse kein Smartphone haben, es könne auch eine einfache Chipkarte sein. Da hatte der Minister in Berlin aber nicht den Kreis Unna vor Augen.
Das Problem mit den Chipkarten
„Bisher war das Chipkartensystem kein Vertriebsweg, der durch die VKU bedient worden ist“, sagt VKU-Sprecherin Inga Fransson: „Eine kurzfristige Einführung der Chipkarte war und ist wegen technischen Herausforderungen, aber auch wegen der schlechten Verfügbarkeiten von einer ausreichenden Anzahl benötigter Chipkarten, nicht möglich.“

Warum Minister Wissing nichts von Papierfahrscheinen hält: Digitale Tickets liefern wichtige Daten, wie viele Menschen zu welcher Uhrzeit von wo nach wo fahren, wichtige Information für eine präzisere Planung des Angebots. Von Anette Reimann wird es keine digital verfolgbare Spur geben. Andere sehen das weniger eng.
VKU: „Sehr gute Resonanz“
Allein in den ersten drei Tagen seit dem Verkaufsstart am 3. April hatten bundesweit 250.000 Menschen zugegriffen. Laut VKU-Sprecherin Fransson haben im Kreis Unna 447 Kundinnen und Kunden das Ticket über die VKU App bestellt (Stand 21. 4.) und 391 über das Webseiten-Formular. 2627 Bestandskunden hätten ihr bestehendes Ticket auf das Deutschlandticket umgestellt. Als „sehr gut“ bewertet Fransson das. Anette Reimann sieht das indes ganz anders.

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