„Das ehemalige Verwaltungsgebäude von Caterpillar in Lünen soll Flüchtlingsunterkunft werden.“ Diese Nachricht lag im anonymen Briefkasten der Redaktion. Weder die Stadt Lünen, noch das Land NRW hatten ein solches Vorhaben bislang öffentlich gemacht. Die Redaktion nahm den Hinweis aus dem Briefkasten zum Anlass nachzufragen. Und tatsächlich: Seit Wochen laufen offenbar Verhandlungen über die Schaffung einer großen Notunterkunft des Landes NRW auf Lünens ältestem Industriestandort, dem ursprünglichen Westfalia-Gelände in Lünen-Wethmar.
Nachdem Caterpillar, der international tätige Bau- und Bergbaumaschinenhersteller aus den USA, seine drei NRW-Werke mit 1200 Beschäftigten in Lünen, Dortmund und Wuppertal geschlossen hatte, wechselte die traditionsreiche Gewerbefläche an der Hüttenallee den Eigentümer. Seit Februar 2023 gehört sie dem rund 100 Jahre alten Unternehmen Hauhinco aus Sprockhövel.
Stadt: Nachbarschaft würde informiert
Dessen Geschäftsführer Christopher Koslowski hatte nach der Werksschließung in Lünen nicht nur das Strebgeschäft von Caterpillar in Lünen und Wuppertal übernommen, sondern auch in China, Australien, Indien und den USA. Am Standort Lünen, so hatte es Koslowski Anfang Februar mitgeteilt, werde sein Unternehmen nicht die gesamte 250.000 Quadratmeter große Industriefläche nutzen. Der Rest werde vermietet, zum Teil möglicherweise auch an die Stadt Lünen. Koslowski sprach von „intensiven Gesprächen“, ohne auf Details einzugehen.
Die nennt auch Alexander Dziedeck nicht, der Sprecher der Stadt Lünen Mitte April. Er bestätigt aber, dass aktuell „Immobilien wie das Caterpillar-Verwaltungsgebäude geprüft“ würden, Flüchtlinge unterbringen zu können. „Diese Prüfungen laufen immer abgestimmt zwischen den verschiedenen Behörden. Nach Einschätzung der Fachleute ist das Gebäude grundsätzlich geeignet, daher hat es erste Gespräche mit dem Eigentümer gegeben.“ Ob und in welchem Umfang es tatsächlich genutzt werde, sei nicht entschieden. Dziedeck versichert aber: „Bevor eine Entscheidung getroffen wird, findet wie in der Vergangenheit eine Beratung mit der Politik und eine Information für die Nachbarschaft statt.“
1000 Plätze oder mehr?
Dort kursieren bereits jetzt Gerüchte. Auch der Verfasser der Nachricht im digitalen Redaktions-Briefkasten will bereits Details kennen: „somit können in den Verwaltungsgebäuden an der Hüttenallee in Lünen bis zu 3.000 Flüchtlinge untergebracht werden“, heißt es in der anonymen Nachricht. Andere wollen zumindest von 1.000 Plätzen gehört haben. Das Land NRW als Betreiberin einer solchen möglichen Notunterkunft nennt keine Zahlen. Richtig ist aber, dass die seit Mitte 2022 geöffnete Notunterkunft des Landes im benachbarten Selm-Bork, eine Zeltstadt neben dem LAFP, ursprünglich 1000 Plätze haben sollte. Tatsächlich ist die Zahl aktuell bei 750 Plätzen – zurzeit alles Männer – gedeckelt.
Die Zahl der Plätze hat Bedeutung – nicht nur für das Land, das derzeit „mit Hochdruck am Aufbau weiterer Kapazitäten zur Unterbringung von Geflüchteten“ arbeitet, wie Ursula Kissel, Sprecherin der landesweit für die Flüchtlingsunterbringung zuständigen Bezirksregierung Arnsberg, auf Anfrage mitteilt. Auch die unter einer galoppierenden Verschuldung leidende Stadt Lünen hätte Vorteile, wenn eine Landeseinrichtung im Stadtgebiet groß ausfallen würde: finanzielle Vorteile, die auch andere Städte sehen, wie aus Kissels Mitteilung hervorgeht.
Finanzielle Vorteile für Lünen
„Aus dem kommunalen Raum wurde vielfach der Wunsch an die Landesregierung herangetragen, wie 2015/16 die Anrechnung von Landesplätzen auf die eigene kommunale Aufnahmeverpflichtung anzupassen“, sagt die Sprecherin der Bezirksregierung. Das Land wolle „dieser zentralen und nachvollziehbaren Forderung einer Anpassung nachkommen und eine Anrechnung von 100 Prozent aller Landesplätze – unabhängig vom Einrichtungstyp – auf die kommunale Aufnahmeverpflichtung vorsehen.“ Tatsächlich würden die Kapazitäten einer Landeseinrichtung mit bis zu 70 Prozent auf die Aufnahmeverpflichtung der jeweiligen Gemeinde angerechnet Das soll sich ändern: „Das dafür erforderliche Gesetzgebungsverfahren soll zügig angestoßen werden.“
Der Stadtsprecher führt die Situation in Lünen näher aus: „Aktuell sind in Lünen an insgesamt 13 verschiedenen Standorten und sowohl in angemieteten als auch in Privatwohnungen 1.210 Flüchtlinge untergebracht, davon 1.043 aus der Ukraine.“ Damit wird es angesichts der gestiegenen Zuwanderung von geflüchteten Menschen langsam eng: „Bei kompletter Ausschöpfung aller Kapazitäten könnten fast 1.500 Personen untergebracht werden, sodass sich rein rechnerisch knapp 300 freie Plätzen ergeben“, rechnet Alexander Dziedeck vor. Es sei jedoch wichtig zu wissen, „dass die Anzahl an Personen, die in den Unterkünften leben, abhängig davon ist, ob es sich um Einzelpersonen, Familien und/ oder Kinder handelt.“ Mit anderen Worten: Die tatsächlich verfügbaren Zahl freier Plätze könnten durchaus niedriger liegen als gedacht. Der Bedarf ist dagegen höher.
Das Land NRW rechnet für das Jahr 2023 mit 55.000 Geflüchteten allein für NRW. Für Lünen würde es laut Stadt eine Zuweisung von 250 Menschen bedeuten. Der Puffer, den es gerade noch gibt, wäre damit hinfällig. Zusätzliche Plätze müssten her. Zusätzliche Investitionen wären nötig. Der anonyme Informant sieht darin das zentrale Motiv der Stadt, der Bezirksregierung die Idee zu unterbreiten, eine zentrale Unterkunft in Lünen einzurichten: Dann würden Lünen weniger Flüchtlinge fest zugewiesen und somit entstünden weniger Kosten
Nicht nur in NRW wächst der Druck auf Land und Städte, mehr Plätze für Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten zu schaffen. Laut Bundesamt für Migration wurden im laufenden Jahr 2023 bereits 80.978 Erstanträge auf Asyl entgegengenommen, vor allem von Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 44.908 Erstanträge. Das bedeutet eine Zunahme der Antragszahlen um mehr als 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
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