Wenn Marie Louise Wißmann von dem Jahresbericht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) hört, fragt sie sich, wer sich wohl hinter den veröffentlichten Zahlen verbirgt. Insgesamt 5600 Menschen mit Behinderung wurden im Jahr 2021 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finanziell unterstützt, geht aus dem Bericht hervor.
Dabei gehört sie selbst zu den Menschen mit Behinderung: Seit ihrer Geburt leidet die gebürtige Cappenbergerin an einem Hydrocephalus, einer krankhaften Erweiterung der mit Flüssigkeit gefüllten Räume im Gehirn - auch Wasserkopf genannt. Außerdem ist sie mit einer Spina bifida, einer Spaltung der Wirbelsäule, zur Welt gekommen. Sie sitzt im Rollstuhl.
114 neue Arbeitsplätze
Unterstützungsleistungen, so der Bericht des LWL-Inklusionsamtes Arbeit weiter, seien zum Beispiel persönliche Hilfen wie Arbeitsassistenzen oder Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber. 2021 seien 114 behinderungsgerechte Arbeits- und Ausbildungsplätze neu geschaffen worden. 1400 Arbeitsplätze bei öffentlichen Trägern seien mit technischen Arbeitshilfen ausgestattet worden, 2200 Menschen mit Schwerbehinderung habe das LWL-Inklusionsamt in Inklusionsbetrieben unterstützt.
Marie Louise Wißmann ist jedenfalls keiner dieser 5600 Menschen. Sie findet sich in diesen Zahlen nicht wieder.
Zehn Jahre gekämpft
Zehn Jahre hat die 29-Jährige darum gekämpft, auf den sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Heute sagt sie: „Mein Hauptjob ist es, mein Leben zu managen.“ Ein gutes Team zusammenzustellen, das sie unterstützt, eigenständig zu leben und die richtigen Anträge dafür zu schreiben. Allein das sei schon eine Wissenschaft für sich.
Seit zehn Jahren arbeitet sie bei der Caritas-Werkstätte für Menschen mit Behinderung in Brambauer; aktuell für fünf Stunden pro Tag als Empfangsdame. 1,35 Euro bekommt sie dafür pro Stunde, sagt sie. Sehr gerne wollte sie woanders arbeiten. Aber: „Ein behinderter Mensch geht immer denselben Weg: hinein in die Werkstatt.“ So ihre Erfahrung.

Ihre Eltern hatten ihr alles ermöglichen wollen. Nach einem „normalen“ Kindergarten und Grundschule war Marie Louise Wißmann dann aber auf eine Förderschule gegangen. Danach ein Jahr auf die Berufsschule, bevor sie dann in der Behindertenwerkstatt anfing. Immer wieder betont sie, dass sie sich inzwischen damit abgefunden habe.
Sagt: „Arbeiten zu gehen war nicht das Wichtigste für mich.“ Sagt: „Ich habe viele gesehen, die sich kaputt gearbeitet haben.“ Sagt: „Ich muss nicht unbedingt mithalten, muss nicht zur Elite gehören und so tun, als ob ich keine körperliche Einschränkung hätte. Ich bin auch in der Werkstatt zufrieden.“
Dann erzählt sie aber auch von schlechten Arbeitsbedingungen in der Werkstätte. Davon, dass sie im Hochsommer bei 35 Grad ohne Ventilatoren, geschweige denn Klimaanlage, hatte arbeiten müssen. „Behinderte können Hitze weniger gut aushalten“, fügt sie erklärend hinzu.
Erzählt davon, wie ihr von einem Werkstatt-Chef während eines Bewerbungsgesprächs für einen sogenannten Außenarbeitsplatz gesagt worden war, dass körperlich und geistig Behinderte dort eigentlich keine Chance hätten. Psychisch Kranke seien viel leichter zu vermitteln und gut zu integrieren. „Das hat sehr weh getan“, sagt sie. „Als ob ich nicht leistungsfähig und eben nicht so gut zu gebrauchen bin. Dabei wollte ich immer in einem Büro arbeiten. Aber die meisten sehen nicht, was man leisten kann, sie sehen nur die Behinderung.“
Als sie dann trotzdem die Chance bekam, in einem Büro außerhalb der Werkstätte zu arbeiten, hatte sie mit Absicht schlecht gearbeitet, erzählt sie. Warum? „Die wollten nicht mit Behinderten zusammenarbeiten. Die hatten keine Erfahrung damit, weil vorher nie jemand da war.“
Ein andermal hatte sie die Möglichkeit gehabt, Praktika zu machen. Eines nach dem anderen, ohne Aussicht auf Perspektive. Nach einem halben Jahr hatte sie abgebrochen. „Wer lässt sich schon gerne ausbeuten?“, fragt sie.
Viele Barrieren im Alltag
Auch eigeninitiativ hatte sie sich beworben. Immer wieder. Doch das scheiterte stets daran, dass ein eigenständiges Hinkommen zum Arbeitsplatz vorausgesetzt wurde. „Aber wie soll das gehen, wenn der Arbeitgeber oder der LWL keinen Taxischein zahlen, der Aufzug im Bahnhof kaputt ist oder der Busfahrer keine Lust hat, einem beim Einsteigen zu helfen?“, fragt sie.
Es gehe auch gar nicht um das schlechte Gehalt, das sie in der Werkstätte bekomme. Es gehe darum, aufs Abstellgleis gesetzt zu werden.

„Im Jahr 2021 und 2022 haben wir trotz der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise jeweils fünf Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt“, informiert Michael Kempf, Ressortleiter Arbeit & Rehabilitation des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld e.V. Derzeit arbeiteten 4,7 Prozent der Beschäftigten auf diesen ausgelagerten Arbeitsplätzen. Geeignet für den allgemeinen Arbeitsmarkt seien aber, laut Kempf, etwa 20 Prozent der Werkstatt-Beschäftigten. Wovon das abhängig ist, formuliert er so: „Dazu wäre eine Qualifikation nach klaren Zielvorgaben durch den Auftraggeber nötig sowie die Bereitschaft der Beschäftigten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu werden. Ebenfalls müssten genügend inklusive Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.“
Die Werkstätten seien besonders für Menschen mit Schwer- oder Mehrfachbehinderung ein Segen. Denn ohne die hätten sie keine Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben.
Nicht-inklusiver Arbeitsmarkt
Tatsächlich, so bestätigt Michael Kempf, schaffen es Menschen mit einer rein psychischen Erkrankung häufiger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt als Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. „Hier muss man berücksichtigen, dass diese Menschen meistens erst im Laufe ihres Arbeitslebens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt psychisch krank geworden sind“, erklärt er.
„Nach wie vor haben wir es mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der nicht inklusiv ist. Diese sehen mehrheitlich immer noch die Schwächen der Menschen mit Behinderung und nicht ihre Potenziale.“ Der Staat sei hier in der Pflicht, Anreize und Unterstützung zu leisten. Der Fachbereich Berufliche Integration der Caritas arbeitet deswegen mit verschiedenen Arbeitgebern zusammen und tritt dafür ein, Vorurteile und Hürden abzubauen.

Auf den Hinweis von Marie Louise Wissmann, sie habe unter extremer Hitze arbeiten müssen, verweist Michael Kempf auf eine Corona-Schutzverordnung, nach der keine Lüftungen eingesetzt werden durften, um herumwirbelnde Aerosole zu vermeiden. Für den kommenden Sommer werden bereits Maßnahmen erarbeitet.
Selbstbestimmtes Leben
Seit einiger Zeit hat sich Marie Louise Wissmann also damit abgefunden, in der Werkstätte zu arbeiten und nicht auf den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Sie hat sich darum gekümmert, aus dem Behinderten-Wohnheim auszuziehen, und lebt jetzt in einer eigenen (betreuten, aber eben barrierefreien) Wohnung in bester Lüner Lage. Sie hat einen Alltagshelfer, der sie in ihrer Freizeit zum Einkaufen, ins Kino oder zu Konzerten begleitet. Sie hat eine Pflege, mit der sie zufrieden ist. „Jetzt habe ich Privatleben und habe mir mein Team selbst ausgesucht“, so ihr Fazit.
Wenn sie, Marie Louise Wißmann, sich etwas wünschen dürfte, was wäre das? „Kein Ableismus mehr (also Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, Anm. der Red.). Kein Krieg, kein Neid, kein Corona und keine Ignoranz.“
Mit Video: Wir testen die Barrierefreiheit am Hauptbahnhof in Lünen
Endlich die Tagesstruktur zurück: Behinderten-Werkstätten öffnen wieder