
© Sylvia vom Hofe
Lüner Pfarrer Mombauer: „Diese Form von Kirche ist tot“
Missbrauchsskandal
Lügen, um zu vertuschen, war gängiges Prinzip in der katholischen Kirche. Das erfuhr Michael Mombauer, als er selbst einen Missbrauchsfall aufklären half. Pfarrer ist er trotzdem geblieben.
Das jüngste Gutachten im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche im Erzbistum München und Freising erschüttert: 497 Opfer, 235 Täter und eine „Bilanz des Schreckens“. Es überrascht aber viele nicht mehr - auch nicht Michael Mombauer aus Lünen. „Eine Institution, für die das Lügen gängiges Prinzip war, um zu vertuschen, hat ihre Daseinsberechtigung verloren“, sagt der 56-Jährige. Er arbeitet selbst bei dieser Institution katholische Kirche - „als Priester für die Menschen“, wie er sagt und nicht für Papst und Bischöfe, die zaudern und lügen. Und das will er auch bleiben. Auch wenn er weiß, dass schon bald alles anders werden wird.
Mombauer spricht langsam und deutlich. Die Sätze sprudeln nicht aufgeregt aus ihm heraus, sondern er hat sie sich gut zurechtgelegt. Mit allgemeiner Betroffenheitsrhetorik, sagt er, sei schließlich niemandem gedient - erst recht nicht den Opfern. Das weiß der gebürtige Borghorster, der seit 2018 leitender Pfarrer in Altlünen ist, aus Erfahrung. Er hat selbst einen Missbrauchsfall aufklären geholfen und ist dabei nicht nur in der Kirche gegen eine Mauer des Schweigens gelaufen.
Fall in Ostbevern rüttelt auf: Messdiener missbraucht
Es war 2010 in Ostbevern, einer kleinen Gemeinde im Kreis Warendorf, in der Mombauer damals als Pfarrer tätig war. „Ein Nachrichtenmagazin veröffentlichte Porträts von Männern, die alle erklärten, Missbrauchsopfer von Priestern geworden zu sein“, erzählt er. Unter ihnen: ein Mann aus Ostbevern. Er gab an, dass sich der damalige Vikar der Gemeinde - später Pfarrer in Rinkerode - in den 1970er-Jahren an ihm vergangen habe. Der Ostbeveraner war damals elf Jahre alt, ein Messdiener. Als Mombauer das las, stand für ihn fest „Ich muss `was tun“ - das Opfer kontaktieren, die Gemeinde informieren, helfen, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Nicht alles davon hat geklappt.

Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., spielt in dem jüngsten Missbrauchsgutachten eine schlechte Rolle - auch weil er erst gelogen hat und später angab, sich nicht erinnern zu können. © Sven Hoppe/dpa
In den 1990er-Jahren sind die ersten Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche bekannt geworden - insbesondere in Irland. Anfang des Jahrtausends werden massenhaft Vorwürfe in den USA laut. In Deutschland setzt die Welle der Enthüllungen 2010 ein. Der Rektor des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, war es, der den Missbrauchsskandal an dem renommierten Internat öffentlich machte. Seitdem reißt die Reihe von bekannt werdenden Taten sexualisierter Gewalt nicht ab. Im Umgang damit erscheint immer dasselbe: dass der Kirche Täterschutz wichtiger sei als Opferfürsorge - etwas, dass auch Mombauer erlebte.
Kirchenverwaltung belügt Missbrauchsopfer
Das Missbrauchsopfer aus Ostbevern hatte sich beim Generalvikariat erkundigt, ob sein einstiger Peiniger noch lebe. „Nein“, bekam er zur Auskunft. Tatsächlich gestorben ist der Pensionär aber erst am 5. Januar 2022 im Sauerland - Jahre, nachdem er totgesagt worden war. Als Mombauer sich erkundigte, wie es zu dieser falschen Auskunft hatte kommen können, bekam er von Dr. Hans Döink, dem damaligen bischöflichen Beauftragten für solche Fälle, diesen einen Satz zu hören, der ihn bis heute bewegt: „Lügen war ein gängiges Prinzip, um Dinge zu vertuschen.“
„Damals habe ich zum ersten Mal nachvollzogen, was es heißt, wenn jemand in einer Beziehung sagt: Ich habe Dich betrogen. Dumm, dass du es jetzt weißt.“ Gehen oder bleiben? Mombauer blieb - und erlebte noch mehr Lügen. Dieses Mal von einer anderen Seite.
Damit die Staatsanwaltschaft den schuldig gewordenen Kollegen belangen könne, suchte Mombauer nach Zeugen. Von mehreren Menschen in Ostbevern wusste er, dass sie eigentlich etwas mitbekommen haben müssten. Gesagt hat aber niemand etwas. Manche - davon ist er überzeugt - hätten ihm sogar lächelnd ins Gesicht gelogen. Vielleicht, um sich selbst nicht zu belasten, weil sie damals nicht eingeschritten sind. Vielleicht aber auch, weil für sie nicht wahr sein konnte, was nicht durfte. „Das Thema Missbrauch konnte sich nur so ausbreiten, weil man auch vor Ort weggeschaut hat“, steht für Mombauer fest. Er erlebte aber nicht nur Schweigen.
Anfeindung von Gläubigen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf
„Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so angefeindet worden“, sagt er rückblickend. Kein Argument sei zu schmutzig gewesen, um ihn zu diskreditieren, weil er angeblich versuche, mit seiner Aufklärungsarbeit den Ruf eines Kollegen in den Dreck zu ziehen. Nicht nur die Verwandten des vermeintlichen Täters, sondern auch viele von dessen Gemeindemitgliedern aus Rinkerode stellten sich ihm feindselig gegenüber. Ohne die Unterstützung seines Seelsorgeteams hätte er das nicht durchgestanden. „Darum kann ich verstehen, wie sich manch ein Bischof fühlen muss.“ Nestbeschmutzer oder Vertuscher - Anfeindungen gebe es immer.

Die Zeiten werden sich ändern für die katholische Kirche (hier der Kirchturm von St. Marien Lünen). Davon ist auch Michael Mombauer überzeugt. Wie die Zukunft aussehen wird, liege auch in der Verantwortung der Gemeindemitglieder. © Quiring-Lategahn
Trotz des Einsatzes: Die Staatsanwaltschaft hat nie das Verfahren gegen den einstigen Vikar eröffnet - weil die Taten verjährt waren. Eine unabhängige Missbrauchskommission des Bistums forschte weiter. Nach zwei Jahren erwirkte sie „einen Freispruch dritter Klasse“ wie Mombauer es nennt. Diese sogenannte „sententia dimissoria“ ist ein im staatlichen Recht unbekannter Mittelweg. Er belegt laut Bistum, dass es durchaus Hinweise gebe, die auf eine Schuld des Beklagten schließen lassen. Sie reichten aber nicht aus für einen Schuldspruch - eine Art Freispruch aus Mangel an Beweisen, bei dem die Verantwortlichen dem Opfer immerhin deutlich gemacht haben, dass sie ihm durchaus glaubten.
155.000 Christen sind 2021 allein in NRW aus den Kirchen ausgetreten - sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche - etwa drei Mal so viele wie 2011, als das Justizministerium die Statistik zum ersten Mal erstellte. Dass der Missbrauchsskandal eine Schlüsselrolle dabei spielt, steht auch für Mombauer außer Frage. Bestätigt bekommt er das, wenn er die anschreibt, die beim Amtsgericht ihren Austritt erklärt haben. Jeder einzelne erhält ein Gesprächsangebot. 80 bis 100 solcher Briefe seien das im Jahr. „Allein in diesem Januar schon 10.“ Antworten erhalte er selten. Und wenn, dann den Hinweis auf das Offensichtliche. „Wer keine innere Bindung hat zur Gemeinde, geht jetzt.“ Allen anderen fällt es auch zunehmend schwer zu bleiben. Denn Orte, an denen sich über Glauben und Zweifeln reden lasse, fehlen.
Wo sind in dieser Kirche noch Orte lebendigen Glaubens?
„Diese Kirche ist tot“, sagt Mombauer in diesem vermeintlich gleichmütig-ruhigen Tonfall, der gar nicht zur Sprengkraft der Aussage zu passen scheint. „Auch unsere Kirchengemeinden sind keine Orte des lebendigen Glaubens.“ Ob Kolping, KAB oder Frauengemeinschaft: „Das sind Gruppierungen für Freizeitveranstaltungen für Senioren, mehr nicht. Zukunftsweisend sei das nicht. Mombauer wundert sich nicht darüber: Die kirchlichen Vereine und Verbände stammten genauso wie das Bild von der Kirche insgesamt aus dem 19. Jahrhundert, als sich die Kirche als Phalanx gegen die böse, moderne Welt verstanden habe, vor der die Menschen zu schützen seien. „Das hat keine Zukunft.“
Wie stattdessen die Zukunft aussehen kann? Mombauer weiß es auch nicht. Ein „Weiter so“ könne es nicht geben - auch weil die Strukturen nicht mehr trügen. Ein Rechenbeispiel: Zu den 100 Austritten pro Jahr kommen in der Gemeinde St. Marien Lünen 150/160 Beerdigungen, und außerdem ziehen Menschen weg: eine Frage der Zeit, bis die Gemeinde von derzeit 10.300 Mitgliedern auf unter 10.000 falle. „Und dann fällt 20 Prozent unseres Haushaltsvolumens weg“. Die Antwort auf diese Veränderungen, die sich so auch andernorts darstellen: die Ausweisung sogenannter pastoraler Räume. Pfarrer werden künftig noch weniger Gelegenheit haben zu Seelsorge. Sie werden Manager sein müssen, um die immer größer werdenden Einheiten zu steuern.
Wer vor Ort eine lebendige Glaubensgemeinschaft erleben will, muss künftig selbst aktiv werden, sagt Mombauer. Überall werde das nicht gelingen. Es werde Gegenden geben, wo es mittelfristig keine Gemeinden mehr vor der Haustür geben wird. Auch keine geöffneten Kirchen. Aber auch keine auf Lüge und Vertuschung basierenden Strukturen.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
