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Lüner Pfarrer: Kirchenaustritte meistens aus finanziellen Gründen
Arbeit in Gemeinden
Die Zahl der Kirchenaustritte in Lünen ist gesunken, aber die Pfarrer der katholischen Gemeinden machen sich Gedanken über die Zukunft und darüber, warum Menschen die Kirche verlassen.
In vielen Städten ziehen Katholiken Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und entscheiden sich für einen Kirchenaustritt. Dieser Trend ist in Lünen nicht zu beobachten. Im Gegenteil. „In unserer Gemeinde gab es 2019 knapp 80 Kirchenaustritte, im vergangenen Jahr sank die Zahl auf 59“, so Pfarrer Michael Mombauer von der St. Marien-Gemeinde.
Corona-Krise könnte Austritte demnächst befördern
Auch in ganz Lünen gingen die Zahlen der Kirchenaustritte 2020 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurück. „Dass weniger Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, hat mich gefreut, aber auch überrascht“, so Mombauer, der für St. Marien, St. Gottfried und St. Norbert zuständig ist. Für einen echten Trend zu weniger Kirchenaustritten bräuchte es aber noch ein paar ähnliche Jahre. „In der Corona-Krise mit Kurzarbeit und Jobverlusten könnte ich mir auch vorstellen, dass es bald wieder mehr Austritte gibt.“
Sein Amtskollege Dr. Thomas Roddey, leitender Pfarrer im Pastoralen Raum, sagt dazu: „Was wir schon seit einigen Jahren merken, ist, dass die Austrittszahlen von jungen Leuten im vierten Jahresquartal recht hoch sind. Viele kirchenferne Berufsanfänger wollen dann wohl die Kirchensteuer sparen.“ Im Moment, im Lockdown, sei das Austreten aus der Kirche aber nicht so leicht, weil man dafür ja einen Termin beim Amtsgericht brauche.
Mombauer sieht auch inhaltlich einen positiven Trend in seiner Gemeinde: „Wir bekommen Zuspruch, hören, dass die Menschen froh über die Präsenz-Gottesdienste sind und auch an Weihnachten waren.“ Die Menschen seien aufmerksam für das, was vor Ort in ihrer eigenen Gemeinde läuft. Möglicherweise wägen sie das gegen die Meldungen über die Missbrauchsskandale und den Umgang damit an höherer Stelle ab.
Ärger über Missstände
Roddey meint: „Grundsätzlich treten Menschen aus der Kirche aus, weil sie sich fragen, warum sie Kirchensteuer bezahlen sollen, obwohl sie selbst keine kirchlichen Angebote in Anspruch nehmen.“ Es gebe aber auch viele Kirchenaustritte, weil sich Menschen über Missstände in der Institution Kirche ärgern, vor allem dann, wenn ihr eigene Bindung zur Kirche nicht besonders stark ausgeprägt ist.
Paradoxerweise, so seine Erfahrung, wollten häufig Eltern, die selbst aus der Kirche ausgetreten sind, dass ihre Kinder getauft werden. Allerdings nicht etwa, weil sie religiös sind, sondern weil sie ihre Kinder gerne in einem katholischen Kindergarten oder in einer katholischen Bekenntnisschule unterbringen möchten, in der Hoffnung, dass dort die Migrantenkinder nicht in der Mehrzahl sind. Roddey: „Dieses Argument finde ich aber ehrlich gesagt nicht gut. Wenn Eltern selbst nicht der Kirche angehören, sollten sie sich auch ehrlicherweise der pluralen Gesellschaft stellen. Wir taufen aber nur dann die Kinder, wenn mindestens ein Elternteil selbst der katholischen Kirche angehört.“
Innere Beziehung neu aufbauen
Dass viele Menschen heute nicht mehr eine so innige Beziehung zur Kirche haben, sieht auch Mombauer. Das Problem sei, Wege zu finden, damit die Gemeindemitglieder eine innere Beziehung und Wertschätzung zur Kirche erfahren. „Eigentlich bräuchten wir auch ein anderes Finanzierungssystem“, meint Mombauer. So wie in der Schweiz. Während in Deutschland die Kirchensteuer zentral erhoben wird und 52 Prozent den Gemeinden zugute kommen, während 48 Prozent an Einrichtungen wie Caritas oder katholische Kitas und Schulen gehen, ist es in der Schweiz anders.
„Da wird die Kirchensteuer vor Ort erhoben und bleibt auch vor Ort, nur ein kleiner Prozentsatz geht an die jeweilige Diözese“, erklärt Mombauer. Dieses System sei für die Menschen besser nachzuvollziehen: „Das ist wie bei Spendenaktionen, wo viele Menschen eher bereit sind, zu spenden, wenn das Geld direkt vor Ort Projekten zugute kommt, man sieht, wo das Geld bleibt.“
Mombauer sieht Veränderungen auf die Arbeit in der Gemeinde zukommen. „Wir müssen versuchen, die Menschen für die Botschaft Jesu zu begeistern, dann bleiben sie auch dabei.“ Kirche sei auch Dienstleister, was die Qualität der Gottesdienste, die Predigten, die Seelsorge und vor allem den Umgang mit den Menschen und ihren Nöten und Sorgen betrifft. „Man sieht, ob man Menschen und ihre Anliegen wie eine Behörde behandelt oder als Individuum sieht.“ Ein Patentrezept habe er auch nicht, aber „dass was man tut, muss man gut tun.“
Die Großgemeinden hätten die Situation nicht einfacher gemacht, aber die Zahl des Seelsorge-Personals werde nicht größer. „Wir müssen erreichen, dass die Gemeinde ein einladendes Gesicht bekommt.“
Roddey möchte in den nächsten Jahren die Seelsorge so gestalten, dass auch kirchenferne Menschen mit Angeboten besser erreich werden. „In der Vergangenheit hatten wir ja mal einen Tiersegnungsgottesdienst, waren beim Drachenfest in der Lippeaue präsent oder hatten einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt mit dem Friedenslicht von Bethlehem.
Glaube ist individueller
Das traditionelle Gemeindeleben mit Gruppierungen und Verbänden werde man auf Dauer nicht revitalisieren können. Das religiöse Bedürfnis der Menschen von heute sei anders als vor 40 Jahren, als man seinen Glauben mit und in der Gemeinde leben wollte. Roddey: „Heute ist Glaube viel individueller. Und das ist die Herausforderung der nächsten Jahre. Aber während der Corona-Einschränkungen lassen sich schwer neue Projekte mit Ehrenamtlichen starten. Da müssen wir noch etwas Geduld haben.“
Beate Rottgardt, 1963 in Frankfurt am Main geboren, ist seit 1972 Lünerin. Nach dem Volontariat wurde sie 1987 Redakteurin in Lünen. Schule, Senioren, Kultur sind die Themen, die ihr am Herzen liegen. Genauso wie Begegnungen mit Menschen.
