„Gut Sang“, das war der Gruß der Sänger des MGV Harmonie Zeche Victoria. 1921 fanden sich junge Bergarbeiter, Knappen, Hauer, Sprengmeister, Steiger und Bergingenieure zusammen. Sie stimmten Volks- und Bergmannslieder an, damals noch unter dem Namen Quartettverein „Harmonie“. Über 100 Jahre haben die Sänger die Ruhrgebietstradition hochgehalten, haben in Bergmannskittel und festlicher Tracht mit ihren Auftritten in vielen Städten Europas Beifall bekommen. Sogar in Amerika waren sie auf der Bühne. Der WDR zeigte den Chor mit dem Liebeslied „Die Rose“ im Fernsehen.
Es sind schöne Erinnerungen. Aus und vorbei. Im Oktober hat sich der Chor aufgelöst. Es fehlen junge Leute. Von den 58 Sängern zu besten Zeiten waren am Ende noch 14 dabei. Zu wenig für einen vielstimmigen Gesang, auf den sich die Chormitglieder mit Atemübungen vorbereiteten. „Das tut schon weh“, sagt Ehrenvorsitzender Paul Böke (89). Damit endet nicht nur eine lange und liebgewonnene Sangestradition, es fehlt auch ein Mosaikstein im kulturellen Leben der Stadt Lünen.
Alte Gründungsbücher

Schlossermeister Paul Böke blättert in den Gründungsbüchern. In feinster Sütterlinschrift sind dort die Jahresberichte dokumentiert. Der Tenorsänger kann sie lesen, er hat das noch in der Schule gelernt. 16 Gründungsmitglieder trafen sich 1921. Auch damals gab es schon Konzerte mit 700 Zuhörern. Eine Tradition, die der MGV Harmonie weiter pflegte. Mit dem Frauenchor Stadtmitte, dem Polizeichor Selm und dem Frauenchor Wethmar füllten die MGV-Sänger das Lüner Theater. Zu sehen und hören waren sie sogar bei dem Stück „Heimat unter der Erde“ im Dortmunder Stadttheater, alle in Bergmannskluft.
Henryk Hans übernahm in den 90er Jahren die Chorleitung. Er schlug neue Töne an, auch aus Oper und Operette. „Das Singen machte auf einmal viel mehr Spaß“, erinnert sich Böke. Es ging nach Verona in Italien, quer durch Deutschland und sogar zu einem Konzert nach Krakau, wo die Sänger im 135 Meter tiefen Salzbergwerksstollen zu hören waren. Mit einer Akustik, „die man sich gar nicht vorstellen kann“, erinnert sich Böke. Liedermacher Rainald Grebe holte den MGV in den Kölner Tanzbrunnen, die Lüner Sänger traten 2019 bei der „Herzkammer-Revue“ auf. „Unvergessliche Momente“, schildert Paul Böke, der 1988 zum MGV gekommen war.
Wechselvolle Geschichte

Der Bergmannschor blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. 1994 bekam der Verein eine neue Satzung und den Namen „MGV Harmonie Zeche Victoria 1921 e.V.“. 2012/2013 sei es durch ein Missverständnis zu Missklängen gekommen. Sänger traten aus. Doch es ging weiter: Paul Böke wurde Vorsitzender. Gisbert Gössing hatte zwischenzeitlich den Dirigentenstab übernommen. Auch unter seiner Leitung gab der Chor viele Konzerte. Dann kam Corona. Eine weitere Herausforderung. Es folgte wieder eine Veränderung: Weil das Grubenwehrheim weichen musste, verlor der MGV seinen Probenraum. Er zog um in die Hubertusstuben an der Moltkestraße.
Dirigentin Kristina Kappenberg übernahm als erste Frau die Chorleitung. Doch sie konnte bei den Sängern nur ein kurzes Gastspiel geben. Denn der Chor beschloss die Auflösung nach 102 Jahren. „Wir hätten gerne weitergesungen“, sagt Böke. Doch es fehlte an Sängern. Am 13. Dezember wird es noch einen gemeinsamen gemütlichen Abend geben, dann ist der MGV endgültig Geschichte. Für acht Sänger geht es allerdings in einem anderen Chor weiter: Sie singen im Polizeichor Selm. Dort ist alle 14 Tage dienstags von 10.30 bis 13 Uhr Probe. Paul Böke gehört dazu.
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