
© Dennis Gölrlich
Lünen denkt anders: Wie die Teilnehmer des verbotenen Spaziergangs ticken
Corona-Protest
Das Verbot ihrer unangemeldeten Versammlung und die Anzeigen haben nicht viele Lüner Querdenker beeindruckt. Sie denken bereits über eine Wiederholung nach. Die Motive sind unterschiedlich.
Im Dunkeln gehen Paare und kleine Gruppen rund um das Lüner Rathaus spazieren. Irgendwo schrillen Trillerpfeifen. Und Polizeibeamte lassen die Lichtkegel ihrer Taschenlampen im Nebel tanzen.
Friedhelm Schaumann steht hinten am Rande der Graf-Adolf-Straße, beobachtet alles und schüttelt nur mit dem Kopf: „Die kriegen das hier nicht gebacken.“ Er hat Vergleichsmöglichkeiten. Am Tag zuvor war der Kamener in Bergkamen. Da hatten ebenfalls Querdenker zu einem „Spaziergang“ aufgerufen und deutlich mehr Leute mobilisiert. Lünen sei da nicht so weit, sagt Schaumann und lächelt. Er ist Mitglied der spontan angemeldeten Gegendemonstration: „Maske statt Aluhut“, steht auf dem Transparent, das er und zwölf andere halten.
Einen Aluhut trägt keiner der selbst ernannten Spaziergängerinnen und Spaziergänger. Ihr Flanieren durch die feuchtkalte Dunkelheit ist aber alles andere als unpolitisch. Die eine Woche zuvor auf der Plattform des Messenger-Dienstes Telegram gegründete Gruppe „Lünen denkt anders“ ist „gegen die aktuelle Politik und die Einschränkungen der Pandemie.“ Die inzwischen 340 Mitglieder zeigen sich unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen, in denen sie eine „systematische Spaltung unseres Volkes“ zu erkennen glauben. Das alles ist in der Beschreibung der Gruppe nachzulesen. Die Flaneure am Rathaus wollen sich in der Regel gar nicht äußern. Die wenigen, die es dann doch tun, lassen erkennen, wie unterschiedlich die Motive sind.
Kinder lassen Trillerpfeifen schrillen
Die Trillerpfeifen schrillen vom Bürgersteig an der Graf-Adolf-Straße - rund 100 Meter von Schaumann und den anderen Gegendemonstranten entfernt. Die zwei Wutbürger, die dort gellend pfeifen und über den Asphalt tanzen und springen sind im Vorschulalter. Ihre Mutter daneben findet nicht, dass sie ihre Kinder für ihre eigenen politischen Überzeugungen instrumentalisiert.

Friedhelm Schaumann ist Teil der Gegendemonstration. © Dennis Görlich
Spätestens seitdem auch Kinder geimpft würden, sei das ein echtes Familienthema „gegen diesen Wahnsinn aufzustehen“, wie sie meint. Welcher Wahnsinn? Die Frau lacht bitter. Es sei doch bekannt, dass für die Herstellung des Impfstoffes Embryonen getötet würden. „Einfach widerlich.“ Sie meint damit: „die vielen Abtreibungen und das Schweigen darüber in den Medien“. Gegenrede ist zwecklos, allein schon weil ihre Töchter mit den Trillerpfeifen zu wahren Höchstleistungen auflaufen.
Festhalten an Fake News: Die Sache mit den Föten
Schade. Sonst hätte die junge Mutter erfahren, dass die Presseabteilung des Paul-Ehrlich-Institut, des deutschen Bundesinstituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, längst mitgeteilt hat, dass es „tatsächlich einige Virus-Impfstoffe [gibt], bei denen für die Vermehrung der Viren, Zell-Linien aus fötalen Zellen verwendet werden.“ Der Begriff Zell-Linie bedeute aber, „dass diese Linie einmalig angelegt wurde und seitdem kontinuierlich vermehrt und eingefroren wird.“ Es handele sich für die Impfstoffproduktion um zwei Föten, die aber keineswegs abgetrieben wurden. Das Festhalten an dem Gerücht von der Embryonentötung passiert also wider besseren Wissens.

Trillerpfeifenalarm an der Graf-Adolf-Straße. Auch das ein Teil der verbotenen Versammlung. © Sylvia vom Hofe
Der Lüner in der Camouflage-Motorradjacke weiß, dass der eine oder andere auch glaubt, die Impfkampagnen würden von Echsenmenschen gesteuert: als Menschen getarnte Außerirdische. Solche Verschwörungstheorien findet er „Humbug“. Er ist an diesem Abend unterwegs, weil er sich und andere zu Unrecht kriminalisiert sieht. „dabei wollen wir doch nur sagen, dass wir nicht einverstanden sind“ - etwa mit einer Impfpflicht in den Pflegeberufen. Er sieht sich in seinem Demonstrationsrecht beschnitten. „Und die da hinten“, er zeigt zu Schaumannn und den anderen, „lässt man einfach.“
Einer der wenigen, die ihren Namen nennen
Der Hinweis, dass dort ein Mann die Demo unter Nennung seiner Personalien angemeldet habe, perlt ab. Die Frage, warum die Lüner Andersdenker dazu nicht bereit seien ebenfalls. „Das würden die uns nie genehmigen“, sagt er. Da bliebe ja nichts anderes übrig, als die vom Polizeipräsidenten als illegal befundenen Spaziergänge. Die Polizeibeamten und die Vertreter des Ordnungsamtes könnten ihm bestätigen, dass das Gegenteil der Fall ist, aber zu einem solchen Gespräch kommt es erst gar nicht, dafür zu mehreren Ordnungswidrigkeitenanzeigen.
Einer der wenigen Spaziergänger, die ihren Namen nennen, ist Joachim Fischer. Nein, ein Impfgegner sei er nicht, sagt er. Im Gegenteil. Der Mann aus Werne versichert, die Corona-Maßnahmen zu unterstützen und dreimal geimpft zu sein: Vollschutz. Dennoch geht er mit einigen Bekannten, die lieber nicht in die Öffentlichkeit treten, rund ums Rathaus, um für die Meinungsfreiheit einzutreten. „Ich finde, jeder solle seine Meinung sagen dürfen.“ Und das sieht er nicht ausreichend gegeben. Stößt es ihm nicht auf, dass bundesweit Rechtsradikale die Querdenkerszene übernommen haben. „Doch, davon muss man sich distanzieren.“ Und tut er das? Fischer lächelt. An diesem nebligen Abend sehe er niemanden, von dem er sich absetzen müsse.
Wiederholung auf Telegram angekündigt
Vielleicht nicht sehen, aber hören. Manche laute Rufe aus der Dunkelheit lassen allerdings vermuten, dass nicht alle die Sache so differenziert sehen wie Joachim Fischer. Die Einträge aus der Telegram-Gruppe ebenfalls. Da ist von „Patrioten“ die Rede, die sich am Montag versammelt haben und von Besucher der Duisburger Pegida-Gruppe. Am nächsten Montag, so der Tenor, solle es eine Neuauflage des Spaziergangs geben - dem Apell von Polizeipräsident Gregor Lange zum Trotz: „„Man kann nicht glaubwürdig für den Schutz demokratischer Freiheitsrechte auf die Straße gehen und dabei gleichzeitig und gleichgültig neben Neonazis und Demokratiefeinden stehen.“
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
