
© Udo Hennes
Long-Covid: Eine Mutter berichtet, wie die Krankheit ihr Leben verändert
Corona-Langzeitfolgen
Für Melanie Ungermann ist nichts mehr, wie es einmal war, seitdem sie an Long-Covid leidet. Sie konnte ihr Baby nicht riechen, Eier schmecken wie Fisch – und an ein Hochzeitskleid erinnert sie sich nicht.
Schreckmomente, Unsicherheiten und nicht nur die eine Frage: Wie lange dauert das noch an? Für Melanie Ungermann ist nichts mehr, wie es vorher einmal war, seitdem sie sich mit dem Coronavirus vor etwas über einem Jahr infizierte. Die 32-jährige Bilanzbuchhalterin einer Steuerkanzlei in Dortmund leidet an Long-Covid. So werden die Spätfolgen einer Corona-Infektion bezeichnet.
Ungermann, die mit Ehemann Patrick und ihren beiden Kindern in Heeren-Werve lebt, infiziert sich im Dezember 2020 in Dortmund – ausgerechnet, als sie bereits in der 35. Woche schwanger ist und eine Impfung noch nicht möglich. Die Krankheit nimmt bei ihr zunächst einen milden Verlauf. „Mit Schnupfen, Husten, wie bei einer leichten Erkältung“, berichtet sie. Indes: Nach knapp einer Woche bemerkt sie Ungewöhnliches. „Ich hatte keinen Geruchssinn mehr – und auch keinen Geschmackssinn. Von jetzt auf gleich. Ich habe mir die Zähne geputzt und die Zahnpasta nicht geschmeckt.“

Das Bücherlesen gestaltet sich für Melanie Ungermann oftmals schwierig: „Lege ich ein Buch ein paar Tage weg, kann ich wieder von vorn anfangen. Dasselbe ist bei Hörbüchern.“ © Udo Hennes
Herztöne des ungeborenen Kindes setzen aus
Paprika schmeckt wie Chemie, Eier schmecken nach Fisch. Nur der Anfang einer Leidensgeschichte mit immer neuen Facetten.
Mit weitaus größerer Dramatik als nur Geschmacksverlust: Bei einer Untersuchung im Krankenhaus setzen plötzlich die Herztöne ihres noch ungeborenen Kindes aus. „Für drei Minuten war nichts zu hören.“
Die Ärzte reagieren schnell, leiten einen Notfall-Kaiserschnitt ein. Sohn Taio kommt gesund zur Welt. „Es wird vermutet, dass das mit Corona zu tun hatte“, berichtet Ungermann. Besonders schmerzhaft bei der Geburt: „Babys haben ihren besonderen Geruch. Den konnte ich nicht riechen.“
Auch all die anderen Symptome, mit denen sie seither zu kämpfen hat, lassen deutlich auf Long-Covid schließen, wie auch ihre Ärzte bestätigen: Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen und Erschöpfungszustände. „Man ist schnell müde, ohne dass man zehn Kilometer gelaufen ist.“

Melanie Ungermann organisiert einen Teil ihres Alltags mit Zetteln, auf denen sie sich Erinnerungen für das schreibt, was sie noch erledigen möchte. © Udo Hennes
Gedächtnisstörungen mehren sich nach und nach
Die Gedächtnisstörungen kamen nicht sofort. „Etwa drei bis vier Monate nach der Entbindung fiel auf, dass ich immer mehr Dinge vergesse“, berichtet Ungermann. „Dass man mal einen Schlüssel verlegt, das passiert. Dass man aber keine Erinnerungen an bestimmte Situationen hat, das ist nicht normal.“ So wie die Vorbereitungen auf die Hochzeit ihrer Schwester, als diese ihr Hochzeitskleid aussuchte. „Sie hat mir dieses und jenes Kleid gezeigt. Ich habe keine Erinnerung daran.“
Auch Nachrichten, die sie liest oder im Fernsehen sieht, bleiben nicht lange im Gedächtnis. „Mein Mann sagt dann oft: Darüber haben wir uns doch schon unterhalten.“ Zudem: Das Bücherlesen wird schwierig: „Lege ich ein Buch ein paar Tage weg, kann ich wieder von vorn anfangen. Dasselbe ist bei Hörbüchern.“ Betroffen ist auch ihre Arbeit, die sie in der Dortmunder Kanzlei in Teilzeit wieder aufgenommen hat. „Ich musste mich ganz neu organisieren, weil ich weniger stressresistent bin. Es geht jetzt nur noch ein Fall nach dem nächsten.“

Ein Patient sitzt in einer Klinik am Teutoburger Wald, in der Long-Covid-Patienten behandelt werden, zur Überprüfung seiner Lungenfunktion in einem Bodyplethysmographen. Rund 40 Prozent der mit dem Coronavirus infizierten Menschen haben einer Studie der Universitätsklinik Mainz zufolge Long-Covid-artige Symptome - unabhängig davon, ob sie von ihrer mehr als sechs Monate zurückliegenden Infektion wussten oder nicht. © picture alliance/dpa
Versuche, den Alltag konstruktiv zu bewältigen
Trotz dieser Einschränkungen lässt sich Ungermann nicht entmutigen und versucht ihren Alltag konstruktiv zu bewältigen. Das gelingt mit einer geordneten Zettelwirtschaft, wenn sie sich Stichworte aufschreibt, um sich an Dinge zu erinnern, die sie nicht vergessen darf. „Tausende Zettel, tausende Erinnerungen, man organisiert sich ganz anders“, sagt sie mit einem Schmunzeln. „Aber es ist erschreckend. Man fühlt sich wie jemand, der Demenz hat. Man wacht morgens auf und weiß nichts mehr.“
Austausch in geschützten Gruppen beispielsweise bei Facebook
Der zweifachen Mutter ist es wichtig, über ihre Krankheit, über die es noch wenig Erkenntnisse gibt, zu erzählen. Sie beteiligt sich in Facebook-Gruppen, in denen mehr Betrieb ist, als sie vorher erwartet hatte – und in denen noch weitaus schlimmere Long-Covid-Verläufe geschildert werden. Betroffene können sich in derlei sozialen Netzwerken austauschen und Halt geben – etwa in der geschützten Facebook-Gruppe „Leben mit Covid-19 - Long Covid Selbsthilfegruppe“, eine Gruppe, die mittlerweile über 8200 Mitglieder hat.
„Ich empfehle wirklichen jedem, sich impfen zu lassen. Die Schäden, die eine Corona-Infektion anrichtet, können noch gar nicht ermessen werden – und auch nicht, ob man sie jemals überstehen wird“, sagt Ungermann. Sie kocht freilich weiter für ihre Familie, obwohl das Abschmecken mit reduziertem Geschmackssinn nicht einfach ist. „Ich koche mehr nach Gefühl. Mein Mann sagt, das funktioniert ganz gut.“
Jahrgang 1968, aufgewachsen in mehreren Heimaten in der Spannbreite zwischen Nettelkamp (290 Einwohner) und Berlin (3,5 Mio. Einwohner). Mit 15 Jahren erste Texte für den Lokalsport, noch vor dem Führerschein-Alter ab 1985 als freier Mitarbeiter radelnd unterwegs für Holzwickede, Fröndenberg und Unna. Ab 1990 Volontariat, dann Redakteur der Mantelredaktion und nebenbei Studium der Journalistik in Dortmund. Seit 2001 in Kamen. Immer im Such- und Erzählmodus für spannende Geschichten.
