Wenn Arnold Reeker sein Büro im Technischen Rathaus in Lünen verlässt, quer über den Willy-Brandt-Platz zum Hauptsitz der Stadtverwaltung geht und mit dem Aufzug bis ganz nach oben in den 14. Stock fährt, kann er sie sehen: die IGA-Fläche an der Lippe. 40 Hektar durchnässte Industriebrache, die bis 2027 einen Teil des Zukunftsgartens der Internationalen Gartenausstellung in der Metropole Ruhr werden soll. Aus dem Fenster blickend, wirkt das Gelände hinten im Osten eher klein: eine optische Täuschung.
400.000 Quadratmeter: „Das sind umgerechnet 50 Fußballfelder nebeneinander“, erklärt der Technische Beigeordnete der Stadt: 632 mal 632 Meter - ein Riesenareal. Und mit mehr als 30 Millionen Euro eine Rieseninvestition in den Standort Lünen. Der sorgenvolle Blick auf die Kosten - „allein in den letzten drei bis fünf Jahren hatten wir 50 Prozent allgemeine Baukostensteigerung“ - verstelle mitunter aber den Blick auf die Chancen durch das XXL-Projekt, meint Reeker. Im Gespräch nennt er sieben Gründe, warum Lünen profitiert.
1. Sanierung des Giftbodens
1910 hatte die Zeche Victoria in Lünen ihren Betrieb aufgenommen. 1974 war Schicht im Schacht. Jahrzehnte der Nutzung als Zeche und Kokerei haben im Boden giftige Spuren hinterlassen im Boden. Eine Lösung zu finden für diese enorme Belastung, war der Stadt in der Vergangenheit nicht gelungen. „Für mich steht im Vordergrund, dass das jetzt gelingt“, sagt Arnold Reeker. „Die IGA ist ein Mittel, das zu erreichen.“ Der Sanierungsplan liegt zurzeit zur Genehmigung beim Kreis Unna. Auf die Genehmigung warten nicht nur die Verantwortlichen der Stadt Lünen, sondern auch des Landes NRW. Denn: „Ohne Sanierungsplan kein Forensik-Bau“ - ebenfalls auf der Viktoria-Brache.
Ursprünglich sollte die Klinik näher an die Wohnbebauung heranrücken, wurde aber zuletzt in Richtung Lippe verschoben: dahin, wo der Boden nicht ganz so arg belastet ist wie in dem anderen Bereich. Das macht sich die IGA-Planung zu Gute, wie Reeker sagt. Der Plan sehe vor, den obersten Meter des Bodens auf dem Forensik-Grundstück abzutragen. „Das hat für das Land einen großen Vorteil und es hat auch für uns einen Vorteil, weil wir mit diesem Boden die anderen belasteten Böden abdecken können.“ So lasse sich das Gelände zudem modellieren. „Wir wollen schließlich am Ende keinen ganz ebenen Landschaftspark haben.“
2. Schnelle Radverbindung
Lünen und Bergkamen bauen gemeinsam an dem sogenannten Zukunftsgarten. Wenn Arnold Reeker seinen Bergkamener Amtskollegen, Baudezernent Jens Toschläger, zu einem der regelmäßigen Arbeitstreffen aufsucht, kann er aber nicht, schnell aufs Fahrrad steigen und hinüberhuschen auf die andere Seite der Lippe. Denn dafür fehlen nicht nur eine nahe Brücke, sondern auch ein durchgehender Radweg. Beides soll mit der IGA kommen. Der sogenannte IGA-Radweg sei so etwas wie das Rückgrat unseres Zukunftsgartens, sagt Reeker. Lünen profitiere von ihm noch mehr als die Nachbarstadt.
Der 20 Kilometer lange Radweg schaffe eine direkte Verbindung innerhalb Lünens zu den südlichen Stadtteilen, insbesondere nach Horstmar und Niederaden - und damit eine klimafreundliche und schnelle Alternative zum Auto.: „eine besondere Qualität“, sagt er. Für diesen Radweg, der keine Autostraßen kreuzt, ist aber nicht nur eine Brücke über die Lippe nötig, sondern auch eine über die Kamener Straße. Die Ausschreibung der beiden Brückenbauwerke brachte dann enorme Kostenexplosion zu Tage. „Da stand das Projekt sehr auf der Kippe“, räumt Reeker ein.
„Wir haben dann mit dem Fördergeber, das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, noch einmal sehr intensiv gesprochen.“ Nur eine erhöhte Zuwendung würde möglich machen, trotz der Baukostensteigerung an dem Projekt festzuhalten. Nach langer Prüfung habe Lünen grünes Licht bekommen: „Ja, wir bekommen 2,75 Millionen zusätzliche Förderung.“ Ob diese Zusage nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 15. November, und der daraus folgenden aktuellen Haushaltssperre auf Bundesebene noch Bestand hat? Diese Frage sei ihm auch kurz durch den Kopf gegangen, als er die überraschenden Nachrichten erstmals gesehen hatte, sagt der Beigeordnete. Aber das Förderprogramm, aus dem Lünen bedient werde, sei deutlich älter: Entwarnung also. „Mittlerweile haben wir den Auftrag auch vergeben an ein Unternehmen, das beide Brücken baut. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“
3. Freizeitangebot für lau
Mit mehr als 100.000 Gästen allein im IGA-Jahr 2027 rechnet die Nachbarstadt Bergkamen: ein Wert, der auch für Lünen Gültigkeit hat. Schließlich handelt es sich um ein gemeinsames Projekt. Nutznießer sollen aber nicht nur Ruhrgebiets-Touristinnen und -Touristen sein, sondern vor allem Lünerinnen und Lüner, wie Reeker betont. Anders als in Dortmund, Duisburg und Gelsenkirchen brauchen die Menschen in Lünen und (genauso wie in Bergkamen) keinen Eintritt zu zahlen. Das Angebot, das sie vorfinden werden, biete für jeden etwas.
Zum einen Wald: Denn die jetzt noch bestehenden Waldflächen rund um die Halde bleiben erhalten, da dort die Böden nicht so sehr belastet seien. Zum anderen ein großer zusammenhängender Grünbereich mit unterschiedlich strukturierten Teilbereichen: „Da wird gesprochen von dem Wunder der Ebene, aber es wird auch so etwas geben wie rollende Hügel mit Spiellandschaften für verschiedene Altersgruppen.“ Und außerdem werde es einen „sehr großen Fun-Sport-Bereich geben.“ Wie der gestaltet werden solle, haben Jugendliche selbst mitbestimmt. Geplant sei auch noch der Quartierstreff.
4. Arbeitsplätze durch Klinik
Freizeitvergnügen gleich neben einer forensischen Klinik, in der 150 psychisch erkrankte Straftäter behandelt werden: „Nein, mir bereitet das ehrlich gesagt keine Sorgen“, sagt Arnold Reeker. Es bestehe die Notwendigkeit, solche Plätze zu schaffen. Er sehe darin „eine gesellschaftliche Aufgabe“. Die wiederholte Besichtigung einer baugleiche Anlage in Hörstel-Dreierwale- „das ist zufälligerweise auch mein Geburtstort“ - habe ihm gezeigt, dass es sich „um einen Hochsicherheitstrakt“ handele. Der Entwurfsplan für den Landschaftspark sehe vor, die Einrichtung „ stark einzubinden in die Vegetationsstruktur“ unter anderem durch das Anpflanzen von neuem Wald. Reeker sieht in der Forensik aber nicht nur eine bittere Pille, die Lünen schlucken müsse, sondern auch „eine echte Hilfe“ - aus zwei Gründen.
Erstens: „Sie minimiert deutlich unsere Kosten, was die Bodensanierung angeht.“ Zweitens: „150 Betreuungsplätze bedeuten auch 150 Vollzeitarbeitsplätze in der Forensik“: neue qualitativ hochwertige Jobs.
5. Bessere Wohnqualität
Das Stadtgartenquartier neben der Viktoria-Brache werde Aufwertung erfahren durch die Gestaltung des IGA-Geländes, prophezeit Reeker. Dafür führt er Lüner Erfahrungswerte an. 1996 hatte das Gelände der ehemaligen Zeche Preußen anlässlich der damaligen Landesgartenschau eine umfangreiche Umgestaltung erfahren. Entstanden ist der Seepark: ein Besuchermagnet und eine beliebte Freizeitfläche mit kostenlos zu besuchendem Strandbad. Er habe die auf die Wohnqualität positive Auswirkungen gehabt. „Ich glaube, dass das auch beim Stadtgartenquartier so sein wird und es langfristig eine sehr beliebte Wohnlage werden wird.“
6. Bessere Nachbarschaft
Bergkamen und Lünen sind Nachbarstädte, die durch das gemeinsame Projekt näher aneinander rücken - nicht nur durch den neuen verbindenden Radweg, der ein schnelleres Hin und Her ermöglicht. Wie sich die gesamte Metropole Ruhr bei der IGA als ein großes attraktives Ziel in NRW präsentiere, gelte das für Bergkamen und Lünen auch im Kleinen. Die 40 Hektar IGA-Fläche werden nahtlose Ergänzung erfahren durch 60 Hektar auf Bergkamener Seite. Die Gäste werden das erleben, was Reeker und seine Kolleginnen und Kollegen einen „vernetzten Erlebnisraum an Lippe und Datteln-Hamm-Kanal zwischen Marina Rünthe im Osten und Preußenhafen im Westen“ nennen. Auch die Entscheidungsträger vernetzen sich enger.
Mehrmals wöchentlich tausche er sich mit den Kollegen in Bergkamen aus. sagt Reeker: über das gemeinsame Projekt. Vielleicht aber auch die Basis für weitere interkommunale Zusammenarbeit. In der Politik hat das so noch nicht geklappt. Die Stadt Lünen hat einen eigenen IGA-Beirat gegründet, der Anfang 2024 seine Arbeit aufnehmen soll. Besetzt ist er aber allein mit je sechs Vertreterinnen und Vertretern aus der Lüner Politik und aus der Gesellschaft. Es sei der Wunsch der Politik gewesen, die Zuständigkeit des Beirats auf den Standort Lünen zu begrenzen, sagt Reeker.
7. Neue Gastronomie
Der Haldentop soll eine Art Leuchtturm für den gesamten neuen Lüner Landschaftspark. Oberhalb der Spiel- und Freizeitflächen könnte er sowohl Aussichtsplattform als auch Ausstellungsraum sein, und Ort für Gastronomie - zumindest während des IGA-Jahres. „Voraussetzung wäre aber neben einer Treppenanlage ein barrierefreier Zugang über eine Rampe“, sagt Reeker. Ob es dazu kommen wird, ist noch offen. Denn die Kosten dürften hoch sein - Voraussetzung sind Wasser, Strom und Breitband bis nach oben auf die Halde -, Förderanträge für das touristische Highlight sind noch nicht gestellt, und die öffentlichen Haushalte bekannterweise belastet. Selbst, wenn aus der Snackstation oben auf der Halde nichts werden sollte, gibt es aber noch andere Gastro-Pläne.
„Wir denken gerade auch über einen weiteren Gastro-Standort nach“, sagt der Beigeordnete: ein Modell wie das Café am Seepark. Die Stadt suche jemanden, „der oder die Interesse hat, Gastronomie zu betreiben und auch selbst zu investieren“. Lünen würde nur die Fläche zur Verfügung stellen: ein Grundstück in künftiger Toplage.
In einer ersten Fassung des Textes war eine falsche Angabe zur Größe des Areals zu lesen. Das haben wir korrigiert.




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