Karin Hirsch-Gerdes hat sich mit den Menschen aus der Ukraine zum Teil nur über Bilder, mit Händen und Füßen verständigt.

© Stefan Milk

An der Grenze zur Ukraine: „Alle fragten sich: Wo sind die großen Organisationen?“

rnUkraine-Krise

Die Kamener Ergotherapeutin Karin Hirsch-Gerdes hat eine Woche lang Menschen aus der Ukraine in Medyka unterstützt. Sie berichtet von ihren intensiven Erlebnissen - und einer großen Enttäuschung.

Kamen

, 30.04.2022, 17:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Viel Zeit zum Nachdenken hat Karin Hirsch-Gerdes nicht, als sie Anfang April in Medyka ankommt, einem Dorf an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Ergotherapeutin aus Kamen ist dem Ruf des Dachverband für Psychotherapie (DVP) hierher gefolgt, um traumatisierte Geflüchtete zu unterstützen und eine psychische Erstversorgung zu leisten.

„Wir sind angekommen, haben ausgepackt und dann direkt Anweisungen bekommen. Danach haben wir sofort losgelegt“, berichtet sie. Zusammen mit einer Kollegin war sie von Dortmund aus nach Kattowitz gestartet und von dort mit einem Leihwagen nach Medyka gefahren. Damit lösen die beiden Frauen das vorherige Team ab, das ebenfalls eine Woche vor Ort war. Hirsch-Gerdes‘ Team markiert die vierte Einsatzwoche.

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Statt wie ursprünglich geplant in Wohnwagen kommen Hirsch-Gerdes und ihre Kollegin in einem alten Hotel unter, das zweckmäßig wiedereröffnet wurde. Das Hotel teilen sie sich mit 80 Polizisten des Sondereinsatzkommandos, die dorthin einberufen wurden, um die Grenze zu schützen und Geflüchtete entgegen zu nehmen. „Der Strom der Flüchtigen kam immer in Wellen und das kann sich auch innerhalb von Stunden ändern, je nach Lage in der Ukraine“, so Hirsch-Gerdes.

In den Zelten erhalten die Ankömmlinge Kleidung, Essen, Koffer und erste Hilfe. Frauen können sich an eine Hilfsnummer wenden und erhalten besonderen Schutz vor Schleppern.

In den Zelten erhalten die Ankömmlinge Kleidung, Essen, Koffer und erste Hilfe. Frauen können sich an eine Hilfsnummer wenden und erhalten besonderen Schutz vor Schleppern. © Hirsch-Gerdes

Einen Eindruck von Medyka und Umgebung konnte sich die Kamenerin schnell verschaffen: Wenig Infrastruktur und viele brache Felder, heruntergekommene Häuser und wenige Menschen. Das alte Bahnhofsgebäude und einige Ecken in der Stadt seien ganz hübsch. Der Bahnhof ist für Hirsch-Gerdes in diesen sieben Tagen einer ihrer Haupteinsatzorte, zusammen mit der Grenze und einem ausgeräumten Einkaufszentrum namens Tesco.

Einkaufszentrum als Zwischenlager für Ankömmlinge

Das Einkaufszentrum dient als Ort der Ankunft und temporärer Unterkunft für die Weiterreise in andere Länder. In einem großen Bereich des Tesco befindet sich ein Verteilungs-Desk mit Landesfahnen entlang langer Tischreihen. „Dort können sich die Gäste aussuchen, in welches Land sie gehen“, so Hirsch-Gerdes. Sie verweist auf die Flüchtlinge als Gäste. Zur Auswahl standen allerlei europäische Länder, aber zum Beispiel auch Australien. Das Tesco dient als Zwischenunterkunft, bis die Busse in Richtung Zielland aufbrechen.

Als sanitäre Anlagen stehen den Bewohnern des Tesco Reihen von Dixiklos und kalte Duschen zur Verfügung. „Magendarmerkrankungen waren dort keine Seltenheit.“ In den ehemaligen Geschäftsräumen waren die Schlafsäle je nach Land eingerichtet mit Klappbetten, eng an eng. „An den Enden dieser Betten stand alles, was sie (die Gäste) noch hatten. Das war ihr Leben.“

Spenden werden weiterhin dringend benötigt. Die notwendigsten Dinge, etwa Handtücher, konnten die Fliehenden nicht von zuhause mitnehmen.

Spenden werden weiterhin dringend benötigt. Die notwendigsten Dinge, etwa Handtücher, konnten die Fliehenden nicht von zuhause mitnehmen. © Hirsch-Gerdes

Im Innenbereich des Tesco befindet sich ein Kinderspielplatz und eine Mutter-Kind-Einheit sowie die Wohnräume der Volunteers. Außen herum die Schlafräume und das Lager, aus dem sich alle frei bedienen dürfen an Kleidung, Wäsche, Handtüchern, Verpflegung und Wasser. Zudem gibt es im Tesco Restaurants, die warmes und kaltes Essen anbieten und einen Stand mit Telefonkarten sowie einen Tisch mit Ladestationen.

Hirsch-Gerdes und ihre Kollegen begleiten die Gäste, so lange diese es wollen. Es ist eine intensive Arbeit. „Mir ist bereits ab dem zweiten Tag das Zeitgefühl abhandengekommen“, sagt sie. Die Ergotherapeutin macht Stabilisierungsübungen mit den Ankömmlingen, verteilt Hilfsbroschüren, wie man solche Übungen mit seinen Kindern machen kann. Die Arbeit lohnt sich: „Es gab eine Lehrerin, die nach England weiterwollte. Sie war bereits einen Monat auf der Flucht. Ihr Sohn wollte sich nicht mehr beruhigen.“

Die Kamener Ergotherapeutin hat sich auch um viele Kinder gekümmert und mit ihnen gespielt. Ein kleiner Junge habe einen richtigen Narren an ihr gefressen, erzählt sie.

Die Kamener Ergotherapeutin hat sich auch um viele Kinder gekümmert und mit ihnen gespielt. Ein kleiner Junge habe einen richtigen Narren an ihr gefressen, erzählt sie. © Hirsch-Gerdes

Hirsch-Gerdes macht mit dem Jungen Übungen, die ihm auch helfen. Die Mutter ist dankbar, merkt sich die Übung. „Sie unterrichtet ihre Klasse auch weiterhin. Die Stabilisierungsübung hat sie dann an ihre Klasse weitergegeben.“

Doch nicht zu jedem sei der Zugang so einfach gewesen. Viele seien schon apathisch gewesen und hätten regelmäßige Absprache mit den Helfern gebraucht. „Es gab auch einen Menschen, der nicht sprechen wollte, nur am weinen war und stumpf vor sich hinstarrte. Hier war das Team gefragt.“ Denn oberstes Ziel ist für das Helferteam, herauszufinden, welches Leiden die Menschen haben - ob physisch oder psychisch - um möglichst schnell zu handeln. Das Team besteht aus Menschen aus allen möglichen Ländern: Amerika, England, Israel, Spanien, Dänemark, Schweden. „Alles freiwillige Helfer.“

Die „Westen“ im Einsatz: Freiwillige Helfer aus allen Ländern leisten jeden Tag alles menschenmögliche, um die Ankömmlinge mit guter Laune und Herzenswärme willkommen zu heißen.

Die „Westen“ im Einsatz: Freiwillige Helfer aus allen Ländern leisten jeden Tag alles Menschenmögliche, um die Ankömmlinge mit guter Laune und Herzenswärme willkommen zu heißen. © Hirsch-Gerdes

Für jeden erkenntlich sind die Westen, die die Helfer tragen. Mit Namen und Sprachen, die der jeweilige Helfer spricht. Die Menschen aus aller Welt verbreiten gute Laune und Herzenswärme, um die zum Teil vollkommen verstörten Menschen willkommen zu heißen. Versorgen die an der Grenze Wartenden mit Snacks und Wasser. Führen sie an der Grenzstraße an Ständen entlang, wo sie warmes Essen bekommen, zum Ärztezelt gehen können und Tierbedarf, Kleidung und Koffer erhalten. Wie ein Trödelmarkt sehe das aus, so Hirsch-Gerdes.

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Große Hilfsorganisationen sind nicht vor Ort

Und bei all der Hilfsbereitschaft, die von diesen Menschen freiwillig auf die Beine gestellt wurde, stellte sich bei jedem einzelnen die Frage: „Wo sind die großen Organisationen? Ob Caritas, ob DRK, niemand war vor Ort.“ Nur das italienische Rote Kreuz sei am Ort gewesen. „So viele Grenzübergänge gibt es nicht, an denen die im Einsatz sein könnten und das hier ist schon einer der größeren“, sagt Hirsch-Gerdes.

Dabei würden Helfer vor Ort dringend gebraucht. Viele seien schon viel zu lange dort, weil sie völlig ausgebrannt sind und keine professionelle Hilfe bekommen. „Aber es kommen keine Helfer nach.“ Deshalb wollen sich 15 der Helfer, die vor Ort im Einsatz waren, zu einem Verein zusammenfinden: „Weiße Weste“ soll er heißen. Dieser Verein will entscheiden, wie es weitergehen soll, damit die Hilfe für all die Menschen nicht abreißt.

Die freiwilligen Helfer bereiten Sandwiches vor, die sie dann an die hungrigen Ankömmlinge verteilen. Riesige Stapel seien im Nu weg gewesen, berichtet Hirsch-Gerdes.

Die freiwilligen Helfer bereiten Sandwiches vor, die sie dann an die hungrigen Ankömmlinge verteilen. Riesige Stapel seien im Nu weg gewesen, berichtet Hirsch-Gerdes. © Hirsch-Gerdes

Das Projekt des DVP, aber auch drei andere Projekte zur Ukrainehilfe, unterstützt der Rotary Club mit Spenden. Diesem dankt Hirsch-Gerdes für die Unterstützung. „Der Club hat auch einen Mann mit Geld unterstützt, der an der Grenze Familien mit Spritgeld ausgestattet hat und der auf eigene Kappe ins Kriegsgebiet fährt und Leute da rausholt, die eingesperrt sind.“ Das habe er beim DRK anmelden wollen. Die sagten ihm jedoch, dass die Anmeldung bis zu einem halben Jahr dauern könne.

Das zweite Projekt stammt von einer Frau mit einem Logistikunternehmen. Sie hat die Logistik umgestellt auf Lebensmittel, die sie ins Kriegsgebiet fährt: Fleischdosen, Milchpulver, Suppen und dergleichen. Ein drittes Projekt beinhaltet den Bau von Mutter-Kind-Einheiten für behinderte und schwer betroffene Kindern und unbegleitete Minderjährige.

„Weiße Weste“ will weitermachen

Und der Club will auch die „Weiße Weste“ weiterhin unterstützen. Die Menschen hinter der Idee wollen weitermachen, obwohl einige von ihnen Drohbriefe mit Morddrohungen erhalten haben. Mit Absender aus dem Kreis Unna.

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Auch Hirsch-Gerdes kann sich vorstellen, noch einmal nach Medyka zurückzugehen. Die Erlebnisse hat sie bisher gut verarbeiten können. „Ich kann aber immer nur vom aktuellen Stand sprechen“, sagt sie. Nach der Woche in Medyka habe sie mit ihrer Kollegin noch einen Zwischenstopp in Krakau gemacht. „Das war die beste Entscheidung. Ich habe mich wie durchsichtig gefühlt, ganz nah am Wasser gebaut. Doch je länger der Tag in Krakau dauerte, desto stabiler wurde ich. Dann hatten wir auch Zeit, uns über all das Geschehene auszutauschen.“