Vor zehn Jahren: Emotionalste Bürgerversammlung in Lünen Forensikgegner buhen Ministerin aus

Emotionalste Bürgerversammlung: Forensikgegner buhen Ministerin aus
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Geballter Protest schlug der damaligen Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) entgegen. Er war ohrenbetäubend laut. Mit Trillerpfeifen, roten Karten und Plakaten zeigten Hunderte Lüner vor dem Hansesaal dem Gast aus Düsseldorf, was sie von den Plänen der Landeregierung hielten. Die hatte 2012 den Bau weiterer Kliniken für psychische kranke Straftäter beschlossen. Eine davon sollte in Lünen stehen.

Die Ministerin hatte sich an dem 30. Oktober vor zehn Jahren in Lünen angekündigt. Nach einer nicht-öffentlichen Vorbesprechung mit der Stadtspitze sollte es eine Bürgerversammlung geben. Wie groß der Widerstand gegen eine Forensik auf der vom Land ausgewählten Victoriabrache 1/2 war, die unweit der Zechensiedlung mit Schule und Kita liegt, bekam Barbara Steffens direkt bei der Ankunft zu spüren. Sie änderte ihre Route und wählte den Hintereingang. Eine Entscheidung, die die Wogen noch höher schlugen ließ.

Auch Kinder am Mikrofon

Viele Gegner hatten sich im Vorfeld zusammengeschlossen. Spontan war die Bürgerinitiative (BI) „Lünen ohne Forensik“ entstanden, die für diesen Abend 10.000 rote Flyer drucken ließ. Damit zeigten die Bürger der Ministerin die rote Karte. 200 neue Mitglieder traten vor der Bürgerversammlung der BI bei, in 72 Stunden kamen 10.000 Unterschriften für eine Protest-Resolution zusammen.

Im Hansesaal ging es anschließend hoch her. Etwa 1000 Lüner waren da. An den Mikrofonen standen die Fragenden Schlange, etliche hatten ihre Kinder mitgebracht. Auch sie erklärten, sie hätten Angst. Angst vor den 150 psychisch kranken Straftätern, die nach Lünen kommen sollen.

Warum Lünen? Diese Frage beschäftigt die Menschen bis heute, auch wenn sich die Stimmung nach zehn Jahren längst abgekühlt hat. Eine Stadt, die mit dem Strukturwandel kämpft, die sich bei Projekten des Landes nicht berücksichtigt fühlt, warum soll ausgerechnet sie eine Forensik bekommen? Was die Ministerin damals sagte, kam bei den Lünern nicht gut an. Grundstücke im Landgerichtsbezirk Dortmund, zu dem Lünen gehört, seien geprüft worden. Die Victoriabrache sei am besten geeignet und verfügbar.

Das Land steht bis heute unter Druck. Seit Jahren steigt die Zahl der richterlich angeordneten Unterbringungen von psychisch kranken Straftätern in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungseinrichtung. Laut NRW-Gesundheitsministerium sind landesweit am 1. August 2022 insgesamt 3.447 Personen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt strafrechtsbezogen untergebracht. Am 1. August vor zehn Jahren waren es 2.965 Personen. „Diese Entwicklung zeigt bereits, dass weiterhin von einem hohen Bedarf an neuen Behandlungsplätzen ausgegangen werden kann, sodass das zweite Ausbauprogramm zum Bau weiterer Kliniken nach wie vor wichtig und sinnvoll ist“, heißt es aus dem Ministerium.

So sehen die Pläne für die Forensik aus. Das Gebäude ist von einem 5,50 Meter hohen Sicherheitszaun umgeben.
So sehen die Pläne für die Forensik aus. Das Gebäude ist von einem 5,50 Meter hohen Sicherheitszaun umgeben. © Architekten rdspartner

Unterschiedliche Gruppierungen

Daran haben viele Lüner auch keinen Zweifel. An dem Standort Lünen schon. Allerdings gibt es neben der Meinung der BI „Lünen ohne Forensik“ auch andere Stimmen. Die Bürgerinitiative „Pro Victoria“ verfolgt den Ansatz Kooperation statt Konfrontation. Wenn schon eine vom Land gewollte Forensik kaum zu verhindern sei, dann wolle man mitbestimmen. Eine weitere Gruppe, „Mut zur Verantwortung“, wollte aufzeigen, dass Forensiken wichtig sind.

Politisch hat die Forensik für ordentlich Zündstoff gesorgt. Auf Beschluss des Rates reichte die Stadt Lünen Klage gegen den 2015 durch die Bezirksregierung Arnsberg erteilten Bauvorbescheid ein - explizit zur Verhinderung des gesamten Baus. Letztlich zog sie vor Gericht den Kürzeren.

Auf Vermittlung der Lüner CDU fuhr im April 2018 eine Delegation aus Lünen nach Düsseldorf. Inzwischen war Karl-Josef Laumann (CDU) Gesundheitsminister. Der Vorschlag aus Lünen: Wenn schon eine Forensik, dann nicht auf dem RAG-Gelände der Victoriabrache, sondern auf der von der Wohnbebauung weiter entfernten RWE-Fläche, die allerdings schadstoffbelastet ist. Der Minister sagte eine Eignungsprüfung der Fläche zu, wenn die Stadt dort Baurecht schaffe.

Kosten von 90 Millionen Euro

Das ist inzwischen geschehen. Doch zehn Jahre nach der Bürgerversammlung ist noch kein Bagger angerollt. Voraussichtlich im ersten Halbjahr 2023 soll der Bauantrag gestellt werden. „Nach Abschluss des Zustimmungsverfahrens und anschließendem Ausschreibungs- und Vergabeverfahren kann der Baubeginn voraussichtlich im Januar 2024 stattfinden“, teilt das Gesundheitsministerium auf Anfrage der Redaktion mit.

Allerdings werden die Baukosten inzwischen durch die Preissteigerungen am Baumarkt mit 90 Millionen Euro kalkuliert. „Angesichts der weiter steigenden Inflation und verschiedenen Unwägbarkeiten ist jedoch zu erwarten, dass sich die Kosten bis zur Vergabe der Bauaufträge weiter erhöhen werden“, heißt es aus dem Ministerium. Hinzu kämen noch Kosten für Grunderwerb, Altlastensanierung und Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen.

5,50 Meter hoher Schutzzaun

150 Vollzeitstellen sollen durch die Forensik geschaffen werden. Das Gebäude bekommt einen 5,50 Meter hohen Sicherheitszaun mit Videoüberwachung und einer Technik, die Geräusch-Schwingungen, registriert. Ein besonders gesichertes Pfortengebäude, eine Fahrzeugschleuse und verschiedene bauliche und technische Sicherheitseinrichtungen im Inneren sollen dafür sorgen, dass die Straftäter ausbruchssicher untergebracht sind. Eine besondere Abschirmung zu dem geplanten Landschaftspark der Internationalen Gartenausstellung (IGA) sei daher nicht vorgesehen.

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