Möbel der Levys brannten in Pogromnacht auf dem Marktplatz in Lünen Erinnerung an eine jüdische Familie

Von Udo Kath
Dreijährige Flucht nach Palästina: Jüdische Familie Levy riskierte ihr Leben
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An die jüdische Familie Levy erinnern Stolpersteinen in Lünen. Bis 1938 haben die Mitglieder der Familie in der Langen Straße 49 gewohnt, bevor sie eine schwierige Flucht bis nach Palästina antraten. Der „Arbeitskreis Lüner Stolpersteine“ erzählt ihre Geschichte.

Auf der rechten Seite am Eingang zur Judengasse befand sich im 19. Jahrhundert eine Metzgerei mit angeschlossener Wurstfabrik sowie Wohnungen der Familie Levy. Ende 1912 übergab Jacob Levy das Geschäft an seinen Sohn Paul. Zwei Jahre nach Beendigung des Ersten Weltkrieges heiratete Paul Levy 1920 die 28-jährige Lina Salmang. Am 1. März 1923 wurde ihr gemeinsamer Sohn Ernst geboren.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 gingen Angehörige der Parteigliederungen immer rabiater gegen Juden vor. SA-Leute sammelten sich vor den Eingängen der Geschäfte. Läden wurden untersucht, um angebliche Unregelmäßigkeiten festzustellen.

Auch Familie Levy war davon betroffen. Sie gaben ihr Geschäft am 29. Mai 1937 auf. Die unmenschlichen Gewaltaktionen und Repressalien der Nationalsozialisten erlebten die Kinder nicht mehr lange mit, da sie nach Palästina flüchteten. Zur Vorbereitung auf die Auswanderung begann Ernst Levy für über neun Monate eine Ausbildung im Tischlerhandwerk, um anschließend mit Unterstützung des Rettungswerkes Jugend-Alijah sein Überleben mit dem Verzicht auf das Elternhaus zu sichern.

Das Bild zeigt die Familie Levy mit ihren Mitarbeitern vor dem eigenen Geschäft in der Langen Straße 49 in Lünen.
Das Bild zeigt die Familie Levy mit ihren Mitarbeitern vor dem eigenen Geschäft in der Langen Straße 49 in Lünen. © Stadtarchiv Lünen

Schicksale besonderer Art standen aber noch Paul und Lina Levy bevor. Ohne ihre Kinder waren sie bereit, auszuwandern. Doch die Leitung der Siedlung in Palästina bestand darauf, dass sie zunächst kommen sollten, um das Land besser kennenzulernen. Als sie im März 1938 in Palästina ankamen, verweigerte das Einwanderungsamt die nötige Erlaubnis, die erst von den Engländern unterschrieben werden musste.

Viele weinten, als sie das Schiff betraten, das alle nach Europa zurückbrachte. Auf der Rückreise nach Deutschland führte sie die Route über Würzburg, wo Lina Levy noch ihre Schwester besuchte, die später im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. Die weiteren Lebensumstände zwangen Paul und Lina dazu, nun doch ihre Flucht von Lünen aus zu organisieren. Das Barvermögen war bereits durch die gewaltigen Steuerforderungen für auswandernde Juden beschlagnahmt worden. Der wertvolle Grundbesitz musste weit unter Wert verkauft werden, um Siedlungsland und die Überfahrten bezahlen zu können.

Die Nazis hatten sie auf ihrem „Zettel“. Und so kam es auch in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu persönlichen Übergriffen in ihrer Wohnung. Diese wurde gestürmt und die Möbel von Nazis auf den nahegelegenen Marktplatz mit Inventar und Möbeln der Synagoge öffentlich verbrannt. Dem Ehepaar Levy gelang durch die Hintertür die Flucht in das Gefängnis des Amtsgerichtes, wo sie sich in Schutzhaft begaben. Lina Levy wurde am nächsten Morgen entlassen. Paul Levy und andere jüdische Männer behielt man dort, bis sich die Lage beruhigt hatte. Aus Angst vor weiteren Übergriffen versteckte sich das Ehepaar anschließend für einige Monate in Dortmund.

Am 18. März 1938 wurde Ernst Levy polizeilich in Lünen abgemeldet.
Am 18. März 1938 wurde Yacov Ernst Levy polizeilich in Lünen abgemeldet. © Gerd Blumberg

Im August 1939 warteten sie, ausgerüstet mit Schiffskarten, auf das letzte Abruftelegramm. Doch der Beginn des Krieges machte die Flucht unmöglich. Ende Juli 1940 ging es in Wien, wo der Antisemitismus noch schlimmer wütete als in Lünen, endlich los. Nach drei Wochen fuhren sie mit dem Zug zur Donau, um hier auf ein Ausflugsschiff gebracht zu werden.

Vorbei an Budapest gelangten Paul und Lina Levy nach einer Woche ins Donaudelta zum Hafen Tucea am Schwarzen Meer. Hier sollten insgesamt rund 4000 Flüchtlinge auf drei große Kähne gebracht werden. Bis Oktober 1940 warteten sie auf das „große Schiff“, das nie kam. Deshalb traten sie mit über 1000 Menschen eine wilde Fahrt über das Schwarze Meer an - ohne Komfort, Trinkwasser und genügend Nahrung.

Die Menschen lagen reihenweise zusammengepresst auf dünnen Brettern. Dazu kamen die gefürchteten Sturmnächte. Alle Menschen erkrankten. Einige starben, Kinder wurden geboren. Zwischendurch fuhr der Kapitän mit seiner Mannschaft nur weiter, wenn er mehr Geld, Uhren oder Schmuck erhielt. Die Menschen schlugen sich um einen Schluck Tee.

Türkisches Hoheitsgebiet wurde passiert und Griechenland erreicht. Hier bekamen die Flüchtlinge das erste Mal nach langer Zeit Nahrung und Kohlen zum Heizen. Später ging es vorbei an Kreta und Zypern. Erneut ging die Kohle aus, sodass die Holzverschläge an Bord verfeuert wurden. Somit gab es keine Schlafplätze mehr. In diesem Zustand kam das Schiff in Haifa im Norden Israels an.

1800 Flüchtlinge

Dort versorgten Engländer sie mit Wasser und Lebensmitteln. Nach einer weiteren Woche wurden alle nach und nach nicht an Land, sondern in den Hafen auf ein Riesenschiff, die „Patria“, gebracht. Auf dem überfüllten Schiff kamen etwa 1800 Flüchtlinge zusammen. Krankenschwestern nahmen sie in Empfang. Es gab Badezellen und Schlafräume. Männer und Frauen wurden getrennt.

Schnell wurde aber klar, dass die britischen Behörden niemanden auf das Festland lassen, sondern zur Insel Mauritius im indischen Ozean weitertransportieren wollten. Die Passagiere forderten nachdrücklich, an Land gelassen zu werden und richteten Petitionen an die britische Regierung ein.

Es war der 25. November 1940 als das Ehepaar Levy riesiges Glück hatte. Die jüdische paramilitärische Organisation Haganah beschloss ihr Schiff zu sprengen, um die Einreise der Schiffbrüchigen zu erzwingen. Doch die Auswirkungen wurden falsch berechnet, sodass 267 Menschen ums Leben kamen.

Paul und Lina Levy konnten sich retten. Nur unter Zwang wurden sie in Palästina aufgenommen und für weitere elf Monate in das mit Stacheldraht umzäunte Internierungslager Atlit gebracht, 20 Kilometer von Haifa entfernt. Erst im Oktober 1941 erreichten sie, „arm wie die Kirchenmäuse“, eine winzige Hühnerfarm in der Nähe von Tel-Aviv. Paul Levy starb dort 1950. Seine Frau zog daraufhin zu ihrem Sohn Yacov in das Kibbuz Misra.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist zum ersten Mal 2022 erschienen, als die Stolpersteine für die Familie Levy verlegt wurden. Wir haben ihn erneut veröffentlicht.

  • Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig und gelten als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
  • Die im Boden verlegten Steine sind Gedenktafeln und erinnern an die Menschen, die während des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert oder vertrieben worden sind
  • Die quadratischen Tafeln enthalten meist den Namen, das Geburts- sowie Todesdatum sowie das Schicksal, welches die Person erleiden musste
  • In 28 europäischen Ländern wurden bereits knapp 100.000 Stolpersteine verlegt.

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