
© Esther Posala
Dreifach-Mutter zur aktuellen Lage: „Unberechenbarkeit unser neues Normal“
Familien
„Normal“, das gibt es nach zwei Jahren Corona in vielen Familien nicht mehr. Die Lüner Mutter und Journalistin Leonie Schulte berichtet aus ihrem Familienalltag.
Die meisten Familien teilen sich gerade in zwei Lager: Bei den einen ist spätestens in der Hochphase Ende Februar das Coronavirus durch die Familie gerauscht. Für sie hat die Pandemie gerade einmal Pause; zumindest bestimmt die Sorge vor der Erkrankung gerade nicht den Alltag. Bei den anderen Familien laufen aktuell die Infektionen. Vielleicht sogar schon zum zweiten oder dritten Mal. Sie alle aber eint: Von Normalität sind Familien auch jetzt immer noch weit entfernt.
Wie weit entfernt wurde mir neulich erst wieder bewusst. Es war ein Mittwoch und mir fiel plötzlich auf, dass noch keine Woche in diesem Jahr 2022 verlief, wie geplant. Winter-Schnupfen, Corona-Infektion die erste, Corona-Infektion die zweite, drei Wochen Quarantäne für die Grundschülerin, schulfrei wegen Lehrerkonferenzen, pädagogischer Fachtage oder streikender Erzieherinnen — als Familie mit drei Kindern haben wir uns nach zwei Jahren Pandemie offensichtlich derart ans Umplanen und Herumwurschteln gewöhnt, dass es uns im Alltag kaum noch auffallen will. So gesehen ist die Unberechenbarkeit des Tages unser neues Normal. Vielleicht ist es daher auch kein Zufall, dass am besagten Mittwoch bereits um 10 Uhr die Gesamtschule der Großen anrief. Kopfschmerzen. Das Kind kommt heim.
Die aktuelle Gefühlslage von Eltern
Wie unterschiedlich die aktuelle Gefühlslage der Eltern ist, zeigt sich auch beim Blick auf baldige Lockerungen. Viele haben das Gefühl, ihre Kinder sind dem Virus schutzlos ausgeliefert, wenn in der Schule die Masken fallen. Für die Jüngsten gibt es weiterhin keinen Impfstoff, auch das macht vielen Eltern kleinerer Kinder Angst — auch wenn Kinder- und Jugendärzte immer wieder betonen, wie gering das Risiko einer schweren Erkrankung oder Long Covid bei Kindern tatsächlich ist. Andere können den Wegfall der Maßnahmen vor allem für die Kinder kaum erwarten. Den meisten meiner Freundinnen und Freunde geht es wie mir: Wir sehnen uns für unsere Kinder nach Normalität.
„Es wird Zeit, dass wir die Masken endlich los sind“, sagt Verena, Mutter eines Fünftklässlers und selbst Lehrerin. Die Jahre auf Abstand, sie hätten etwas mit dem Sozialgefüge gemacht. „Der Gemeinschaft fehlt das Lächeln“, findet Verena. Auf ihrem Schulhof gehe es inzwischen deutlich rauer zu als sonst. Nur der Zeitpunkt — eine Woche vor den Osterferien und damit in der Vor-Abi-Zeit — ist für sie nicht ideal.
Jedes Halsweh bedeutet zwei Tage Homeoffice
Ob Lockerungen zu mehr Miteinander und echter Entspannung an den Schulen führen, bleibt aber ebenso im Konjunktiv wie all die Kindergeburtstage, Klassenausflüge und Sportveranstaltungen, wie Urlaubspläne oder ganz profan: das Arbeiten. Aus Erfahrung wissen wir Eltern inzwischen, dass jedes Halsweh zwei weitere Tage Homeoffice und Homeschooling in Parallelität bedeutet, weswegen auch das anfängliche Abflachen der Omikronwelle bei den wenigsten Eltern echten Optimismus entfachen wollte.
Ich war da zunächst anders. Noch Ende Februar, als Corona gerade durch unseren Haushalt gezogen war und mir noch ein paar Wochen Nachwehen bescheren sollte, war ich trotzdem optimistisch. „Der März wird super!“, rief ich befreundeten Müttern und Vätern zu, die gerade selbst in Quarantäne saßen. Dann überfiel Russland die Ukraine.
„Ich fühle einfach nur noch Weltschmerz“
Wieder hatte ich ein Kind zuhause. Diesmal die Große, die vor lauter Sorge nicht mehr schlafen konnte. Wir dürfen es nicht vergessen: Unsere Kinder und Jugendlichen stehen in einer ganz besonderen Phase in ihrem Leben drei existenziellen Krisen gegenüber: Klima, Corona und jetzt eben Krieg. Das macht etwas mit ihnen. Mit uns allen vermutlich. Nur treffen unsere Kinder auf Eltern, die vor lauter Auffangen, Trösten, Erklären und Unterrichten nach zwei Jahren selbst am Rande ihrer Belastbarkeit sind. Meine Freundin Katrin, selbst Mutter eines Grundschul- und eines Kita-Kindes, sagte neulich: „Ich fühle einfach nur noch Weltschmerz.“
Gleichzeitig frage ich mich: Wie belastet darf ich eigentlich sein, gemessen an dem Leid, das gerade den Menschen in der Ukraine widerfährt? Darf ich erschöpft sein, wenn andere um ihr Leben bangen? Ich komme zu der Antwort: Ja, wir dürfen. Und wir müssen das benennen. Weil man zum einen Leid nicht gegeneinander aufwiegen kann. Und zum anderen: Weil man nie etwas ändern könnte, dürfte man erst am Boden liegend überhaupt die Stimme erheben.
Denn wir müssen etwas ändern. Selbst wenn Corona im täglichen Leben für viele Familien aktuell eher im Hintergrund eine Rolle spielt, so sind die Folgen der Pandemie längst nicht behoben. Wie oft in diesen zwei Jahren haben sich die Verantwortlichen in Politik, aber nicht selten auch im Job, darauf verlassen, dass Mütter und Väter Lösungen für unsere gesellschaftlichen Probleme im Privaten finden.
Kinder brauchen Zeit zum Ankommen
Eltern wiederum, die als Privatlehrer fungierten, sind nicht nur erschöpft, sie sind auch verunsichert: Hat mein Kind eigentlich alle wichtigen Kompetenzen gelernt? Was ist mit den entstandenen Lücken? Darauf findet die Politik bislang keine zufriedenstellenden Antworten. Ebenso wenig auf andere drängende Fragen.
Als Journalistin habe ich in den vergangenen zwei Jahren mit unzähligen Expertinnen und Experten gesprochen und selbst Artikel dazu geschrieben, was Kinder in dieser Krise benötigen. Alle waren sich einig: Was Kinder vor allem brauchen, ist Zeit zum Ankommen, Zugang zu kulturellen Angeboten, ein lebendiges Miteinander.
In der Schule aber ging und geht es weiterhin vor allem um eines: Leistung. Kaum aus dem fünfmonatigen Homeschooling zurück, musste meine Große im vergangenen Sommer erst einmal Klassenarbeiten schreiben. Nach ihrer eigenen Corona-Infektion stand Anfang März direkt die Mathe-Arbeit an. Kein Entschlacken der Lehrpläne. Nein, der Schulstoff geht weiter, wie bisher. Daran können offenbar auch zwei Jahre Pandemie nicht rütteln. Ein Kind hat mir mal in einem Interview über die Corona-Zeit gesagt: „Das Schöne in der Schule ist weg. Nur der Druck ist irgendwie geblieben.“ Ich denke, das fasst die Corona-Zeit, ob nun zuhause, im Wechselunterricht oder ganz in Präsenz, sehr gut zusammen.
Es bräuchte einen Ruck
Es bräuchte also einen Ruck. Die Kinder müssten endlich raus aus dem Frontalunterricht, aus einem Schulgebäude mit Einbahnstraßenregelungen, aus dem unaufhörlichen Leistungsdruck. Es bräuchte gerade jetzt Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, Schulleitungen, die sich mit Verve in den Neuanfang stürzen. Ein Lichtblick für unsere 12-Jährige: Bald könnte eine Klassenfahrt anstehen. Endlich.
Aber viele Eltern und Kinder erleben in den Schulen Zurückhaltung — beim Wegfall der Maßnahmen, beim Planen von Ausflügen, beim Einreißen alter Strukturen. Team Vorsicht regiert nicht in allen, aber doch in vielen Lehrerzimmern. Und ich muss zugeben: Ich kann es irgendwie verstehen.
Die Lehrkräfte, die nach zwei Jahren überhaupt noch fit vor ihren Klassen stehen, sind größtenteils ebenso erschöpft wie die Eltern. Wieder etwas planen, das dann abgesagt werden muss? Wieder abwägen, was gerade recht, was gerade noch vertretbar ist? Und am Ende trotzdem jemanden enttäuscht oder gar verärgert zu haben? Ich kann jeden verstehen, der gerade einfach nur froh ist, den Alltag irgendwie bewältigen zu können.
Auch Lehrkräfte bräuchten Zeit
Auch Lehrkräfte bräuchten Zeit. Statt Kinder von einer Klassenarbeit zur nächsten zu treiben, wäre es auch für sie jetzt wichtiger, sich wirklich um die Kinder und Jugendlichen kümmern zu können, um die Beziehungen miteinander, denn sie sind es, die wirklich gelitten haben.
Wieder mehr Miteinander, das täte uns allen gut. Das aber darf nicht auf den Schultern einzelner liegen. Professorin Fabienne Becker-Stoll, eine der führendsten Bindungsexpertinnen in Deutschland, sagte mir schon im vergangenen Jahr in einem Interview, es wäre jetzt an den Kommunen, für Kinder und Jugendliche Angebote zu schaffen, um ihnen wieder mehr Miteinander möglich zu machen. Familien brauchen nach über zwei Jahren das Gefühl, gesehen und gehört zu werden. Hier sehe ich in unsere Kommune durchaus noch, nun ja, Potenzial.