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Angst vor Zeugnissen: Experten sehen weitreichende Gründe
Schule
Das erste komplette Corona-Schuljahr geht in Lünen und Selm zu Ende, es gibt Zeugnisse. Viele Kinder und Jugendliche fürchten sich davor. Dafür sorgt auch die Pandemie.
Wenn am Ende der nächsten Woche (2.7.) die Schulglocke ertönt, endet nicht nur der letzte Schultag in Nordrhein-Westfalen (NRW). Tausende Schülerinnen und Schüler werden dann auch ihre Zeugnisse in den Händen halten. Und das nicht immer mit Freude. Denn die Aussicht auf die Noten am Ende des Schuljahres sorgt bei vielen Kindern und Jugendlichen für Angstzustände. Diese gehen aber nicht ausschließlich auf die anstehende Zeugnisvergabe zurück, wie die Selmer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Kerstin van Husen sowie der Lüner Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Thomas Kahlen erklären.
Generelle Angst vor Bewertungen
Denn es seien weniger die Zeugnisse an sich, die den Kindern und Jugendlichen Angst machen. „Es zeigt sich eher eine generelle Angst vor einer Bewertung“, sagt Dr. Thomas Kahlen. Diese zeige sich besonders bei den älteren Schülerinnen und Schülern in den Abschlussjahrgängen zehn und zwölf, beziehungsweise 13.
Ähnlich sieht es Kerstin van Husen. Sie habe besonders bei den zehnten und Abiturklassen eine größere Prüfungsangst aufgrund einer hohen Belastung festgestellt. Auftreten könne diese Angst aber teils schon in der zweiten Klasse, wenn die Bewertung der schulischen Leistungen anhand von Noten erfolgt, so Kahlen. Die Angst zeige sich in unterschiedlichen Formen und körperlichen Symptomen. „Manche Betroffene erleiden Panikattacken oder sie entwickeln bestimmte Ticks - beispielsweise verstärktes Händewaschen“, erklärt Jugendpsychiater Kahlen. Ein solches Verhalten beobachte er in den letzten Monaten vermehrt bei seinen Patientinnen und Patienten.

Besonders bei den zehnten und Abiturklassen sei eine größere Prüfungsangst aufgrund einer hohen Belastung festzustellen, sagt die Selmer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Kerstin van Husen. © Kerstin van Husen
Regelmäßige Rückmeldungen im Schulalltag fehlen
Die Angst vor einer Bewertung begründet Kahlen mit fehlenden Rückmeldungen innerhalb des Schulalltages - einem Resultat des lange anhaltenden Distanzunterrichtes. „Je jünger die Kinder und Jugendlichen sind, desto öfter brauchen sie eine Rückmeldung zu dem, was sie machen. Beispielsweise, ob die Hausaufgaben gut oder schlecht gelöst wurden.“ Während die Schülerinnen und Schüler zuhause vor dem Computer gelernt haben, sei es für das Lehrpersonal wesentlich schwieriger gewesen, ein schnelles Feedback zu geben.
„Die Kinder und Jugendlichen haben beispielsweise Wochenpläne abgegeben, aber keine Rückmeldung erhalten. Anders, als wenn die Lehrkräfte Hausaufgaben zu Beginn der Stunde kontrolliert hätten“, führt Kahlen weiter aus. Das führe dazu, dass die jungen Menschen ihre Leistung nur schlecht einordnen können. Sorge verbreite sich, nicht mehr mit den Klassenkameradinnen und Kameraden mithalten zu können.
„Dadurch, dass es für eine lange Zeit keinen Unterricht vor Ort in den Schulen gab, konnten sich die Kinder und Jugendlichen ihren Ängsten schlecht stellen und sie deshalb nicht lindern“, sagt Van Husen mit Blick auf ausgefallene Klassenarbeiten. Dafür müsse die Prüfungsangst normalerweise regelmäßig überwunden werden.
Die ausbleibenden Rückmeldungen durch das Lehrpersonal könne laut Kahlen ebenfalls dazu führen, dass Kinder und Jugendliche die Sinnhaftigkeit hinterfragen, regelmäßig Aufgaben abzugeben. Für Kahlen steckt dahinter die Grundangst des Menschen, dass das Leben endlich sei. Die Corona-Pandemie wirke in diesem Fall wie ein Brennglas. Sie sorge für „ein kollektives Bewusstsein, dass die Welt nicht so sicher ist, wie sie vor der Pandemie vielleicht schien.“
Symptome sind vielfältig
Diese Gedanken können zu einer Depression führen. „Die äußert sich dann in Symptomen wie Schlafmangel oder Antriebslosigkeit“, sagt Van Husen. Betroffene Schülerinnen und Schüler würden daher beispielsweise weniger Lernen, was zu einer Verschlechterung der Noten führen könne. So zeichnet sich ein Kreislauf der Angst ab.
Geboren in der Stadt der tausend Feuer. Ruhrpott-Kind. Mag königsblauen Fußball. Und Tennis. Schreibt seit 2017 über Musik, Sport, Wirtschaft und Lokales. Sucht nach spannenden Geschichten. Interessiert sich für die Menschen und für das, was sie bewegt – egal in welchem Ort.