Nazi-Regime verhinderte Olympia-Teilnahme Erich Schild - der vergessene jüdische Sprinter

Nazi-Regime verhinderte Olympia-Teilnahme: Erich Schild - der vergessene jüdische Sprinter
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Dies ist die Geschichte eines Mannes, der eigentlich als erfolgreichster Sportler in die Geschichte der Städte Selm und Fröndenberg eingegangen sein müsste. Der aber nie die Förderung als Sportler bekam, die ihm zustand. Der stattdessen verfolgt wurde. Der floh und nur mit dem Leben davonkam. Dessen Familie ausgelöscht wurde und der seine Heimat verlor. Der die Identität wechselte. Weil er eine andere Religion besaß. Dies ist die Geschichte von Erich Schild. Erich Schild war Jude.

Dass Erich Schild zu den besten Sprintern in Nazi-Deutschlands gehört, weiß heute kaum noch jemand. Bekannt ist nur wenig über sein erstes Leben, das des Sportlers. Die Quellenlage ist dünn, wenige Interviews und ein autobiografischer Bericht zeugen von Schilds Wirken. Erich Schild war aus dem Bewusstsein weitestgehend verschwunden. Sein Name auch. Denn nach dem Krieg nahm der Holocaust-Überlebende den Namen Eric Schildkraut an und wurde Schauspieler. Dass lange gar nicht klar war, dass es sich bei „Erich Schild“ und „Eric Schildkraut“ um ein und dieselbe Person handelte, macht die Recherche zu Erich Schild, dem Sprinter, zunehmend schwierig.

Professor Lorenz Peiffer, renommierter Sporthistoriker aus Oldenburg, hat die Sportlerkarriere von Erich Schild zusammengefasst und in mehreren Büchern veröffentlicht. „Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt“, sagt Peiffer vergangene Woche im Gespräch, „ich kenne ihn nur aus der Literatur.“ Viele Fragen über seine Laufbahn als Ausnahmesportler sind offen, viele Details seiner Flucht-Odyssee durch Europa unklar. Wie würde der 1999 verstorbene Schildkraut heute über die Dinge sprechen, die er erlebt hat? Peiffer ist es zu verdanken, dass die Geschichte von Sportler Erich Schild heute überhaupt nacherzählt werden kann. Zudem erinnert die in Lünen ansässige Bürgermeister-Harzer-Stiftung in einem Portrait auf dem Portal „Verwischte-Spuren.de“ an Erich Schild.

Das Foto zeigt Erich Schild vor der Synagoge in Bork.
Das Foto zeigt Erich Schild Anfang der 90er-Jahre vor der Synagoge in Bork. © Atellierarchiv Cymontkowski

Erich Schild wurde in Langschede am 6. November 1906 geboren. Er war unehelich. Seine Mutter Lisette Rosenthal, Rufname Bella, zog mit dem Sohn nach Berlin, danach weiter nach Selm. 1911 heiratete sie Kaufmann Friedrich Schild, Erich nahm den Namen seines Adoptivvaters an. Nach der Ludgeri-Grundschule wechselte er auf das Realgymnasium in Lünen. Das sportliche Talent fiel schon damals auf. Schickte der Vater seinen Sohn zum Zigarettenholen, stoppte Erich Schild seine Zeit. „Ich habe als Kind nie darunter gelitten, dass ich Jude war“, sagte Schild einmal selbst.

Als Jugendlicher war er Westfalenmeister über 100 Meter. Doch in der Altersklasse U20 erlebte Erich Schild wohl erstmals bewusst Antisemitismus – auch in seiner Heimat. „Geht’s nicht ohne Juden?“, fragte ein Lehrer, als Erich Schild für die zusammengestellte 4x100-Meter-Staffel berufen wurde. In Selm wurde er vom Handball ausgeschlossen, weil ein Schiedsrichter den Verein vor die Wahl gestellt haben soll: Entweder spielt Erich Schild nicht mit – oder der Schiedsrichter pfeift nicht an. Das war in den 20ern. Von der Machtergreifung der Nazis war das Deutsche Reich damals noch Jahre entfernt. Das zeigt: Schon vor dem Nationalsozialismus war Judenfeindlichkeit tief verwurzelt in der deutschen Gesellschaft.

Dabei war die Familie offenbar nicht besonders religiös. Seine Bar Mizwa feierte Schild in der Synagoge in Bork, sein Vater besuchte aber nur zu großen Feiertagen die Synagoge. Relativ radikal skizziert Peiffer, wie sich das Leben von Erich Schild 1933 schlagartig veränderte und Freundschaften zerbrachen. Die Familie wurde offen angefeindet, der Vater war 1929 bereits gestorben. Die Familie floh in die Niederlande. Legendär: Bei Gronau rannte Schild vor den Augen der deutschen Grenzer auf die niederländische Seite – es sollte der erste einer ganzen Reihe von erfolgreichen Fluchtversuchen sein.

Schild fliegt nach Straßburg

In Straßburg trieb Schild ebenfalls Sport, hatte aber Heimweh und kehrte nach Deutschland zurück. In Dortmund schloss er sich einem Verein des jüdischen Multisportbundes „Schild“ des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten an, der sich in Deutschland zum Sammelbecken ausgeschlossener jüdischer Sportler entwickelte und nichts mit Schilds Nachnamen zu tun hatte. Der Verband wuchs in den 30ern rasant auf über 20.000 Sportler in mehr als 200 Vereinen an. Die Trainingsbedingungen waren dennoch miserabel. Es fehlten Sportstätten und Trainer.

Trotzdem entwickelte sich Erich Schild zu einem der schnellsten Sprinter Deutschlands. „Er konnte mit anderen Sprintern der Olympiamannschaft mithalten und hätte die Nominierung verdient gehabt. Wenn er die Chance auf professionelles Training gehabt hätte, hätte er sicherlich Möglichkeiten auf den olympischen Endlauf gehabt“, schätzt Professor Peiffer heute ein. Bester Deutscher war zu der damaligen Zeit Erich Borchmeyer aus Münster, der im Finale 1936 in Berlin 10,7 Sekunden lief. Erich Schild war nicht weit weg. Für Schild Dortmund lief er 1935 seine beste bekannte 100-Meter-Zeit: 10,8 Sekunden. Doch Schild war sogenannter „Volljude“ und spielte in der Olympiamannschaft keine Rolle.

Erich Schild trägt hier das Trikot von Schild Dortmund. Für den Verein lief er in den 30ern seine größten Erfolge ein.
Erich Schild trägt hier das Trikot von Schild Dortmund. Für den Verein lief er in den 30ern seine größten Erfolge ein. © Lause/Wiens

Er nahm zwar an Lehrgängen teil und berichtete damals auch davon. Zum ersten Mal erlebte er systematisches Training, physiotherapeutische Behandlungen, fachliche Betreuung und Techniktraining. Kaum auszudenken, was möglich gewesen wäre, wenn Schilds Talent auf Sportförderung getroffen wäre. Klar, Schild war kein Jesse Owens, aber dennoch einer der stärksten Deutschen seiner Zeit. Peiffer ordnete das organisierte Training für Juden als „Alibi-Veranstaltung gegenüber der internationalen Weltöffentlichkeit“ ein. Nicht einmal Gretel Bergmann, Deutschlands beste Hochspringerin, lud das NS-Regime zu den Spielen ins Berliner Olympiastadion ein. Erich Schild verpasste auf dem Zenit seiner Karriere die Olympischen Spiele wegen der NS-Rassenpolitik.

Ausbildung zum Sportlehrer

Wann genau Erich Schild Dortmund wieder verließ, ist unklar. Ab Herbst 1935 zog er nach Stuttgart, begann eine Ausbildung für jüdische Sportlehrer. Die Note: sehr gut. Sein größter Erfolg war damals die Reichsmeisterschaft der jüdischen Sportbewegung und Platz eins der Verbandsbestenliste mit 6,62 Metern im Weitsprung.

Dann kehrte er Deutschland den Rücken. In Belgien wurde er in einem Verein als Sportlehrer engagiert. Als die Wehrmacht die Beneluxstaaten überfiel, wurde Schild verhaftet, kam in ein Lager in Saint-Cyprien in Südfrankreich, von dem aus viele Häftlinge später in andere Internierungslager oder Konzentrationslager weitertransportiert und ermordet wurden. Gemeinsam mit anderen Gefangenen hauste er in Baracken in Strandnähe. „Es war fürchterlich. Es gab nichts Gescheites zu essen. Mir ging es so schlecht, alle haben geglaubt, ich komme nicht durch“, erzählte Schild.

Doch er kam durch. Erich Schild konnte fliehen, kehrte nach Brüssel zurück, wurde hier verhaftet und nach Dortmund gebracht. Wieder floh er, kam bei einem Freund in Belgien unter. Er holte seine Mutter nach, arbeitete erneut in Brüssel in einem Verein.

Schnelligkeit hilft bei Flucht

Dann verhaftete die Gestapo seine Mutter und deportierte sie nach Dortmund. Erich Schild floh über Paris schließlich nach Südfrankreich. An der Grenze ins unbesetzte Frankreich soll Schild wieder von der Polizei kontrolliert worden sein. Wieder gelang ihm dank seiner Schnelligkeit die Flucht. Er fälschte Papiere auf den Namen eines belgischen Freundes (Marcel Zwalens), den er später zusammen mit weiteren belgischen Sportlern in einer riskanten Unternehmung vor der Deportation rettete und aus besetzten Gebieten herausholte.

Mit dem Job als Sportlehrer schloss Erich Schild langsam ab. „Trainer sein ist ein Scheißberuf“, sagte er einmal. Nach dem Krieg kehrte er nach Deutschland zurück, besuchte auch Selm wieder, wo sein Elternhaus stand. Er erfuhr, dass seine Mutter 1942 in Zamosc in Polen ermordet wurde. „Wenn ich versucht hätte, die Mama zu retten, wir wären beide drauf gegangen“, sagte Schild 1987 in einem Interview. Die Mutter wurde 59 Jahre alt. Die persönliche Tragödie war aber weitaus größer: 30 namentlich getötete Familienmitglieder konnte Erich Schild aufzählen. Spätestens ab 1965 verwendete Erich Schild den Namen Eric Schildkraut und damit den Nachnamen seines Großvaters.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist zum ersten Mal im Januar 2023 erschienen. Zum Holocaust-Gedenktag 2024 haben wir ihn erneut veröffentlicht.

Auf dem jüdischen Friedhof zwischen Selm und Bork steht ein Grabstein der Familie Schild, auch im Gedenken an seine Mutter, die die Nazis 1942 ermordeten.
Auf dem jüdischen Friedhof zwischen Selm und Bork steht ein Grabstein der Familie Schild, auch im Gedenken an seine Mutter, die die Nazis 1942 ermordeten. © Sebastian Reith

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