Eric Schildkraut hat ein kleines Köfferchen dabei, als er in Selm am Bahnhof aus dem Zug steigt. Es ist das Jahr 1945, der Krieg ist gerade vorbei. Deutschland liegt in Trümmern. Der fast 40-jährige Mann, der in Selm am Gleis steht, hat viele Jahre der Flucht hinter sich. Geprägt von Demütigung, Verfolgung, Verlust. Er gehört zu den wenigen Juden aus Deutschland, die den Holocaust überlebt haben. Und zu der noch mal deutlich kleineren Gruppe der Juden, die das Land nach dem Krieg überhaupt noch mal betreten wollten.
Vom Bahnhof aus geht Eric Schildkraut durch den Ort. „Ich dachte immer: Hoffentlich kommt keiner, der mich kennt“, erzählte er später in einem Interview. Selm: Das ist der Ort, an dem er großgeworden ist. Zusammen mit seiner Mutter war er als kleiner Junge von Berlin aus hierher gekommen. Sie hatte Verwandtschaft in Bork, bei der sie mit ihrem unehelich auf die Welt gekommenen Sohn unterkam. Später heiratete sie und ihr Ehemann adoptierte den kleinen Eric. Erich Schild - so hieß er damals noch. Warum genau und wann er seinen Namen änderte, ist nicht bekannt.
Die Familie Schild jedenfalls war angesehen in Selm. Sie betrieben zwei Geschäfte - in einem arbeitete Eric als Jugendlicher. Er sei ein richtiger „Springinsfeld“ gewesen, erinnerte sich später eine Selmerin, die in einem der Läden mitarbeitete. „Eric fuhr sonntags immer nach Dortmund ins Theater. Er liebte Operetten. Montags morgens hat er uns dann im Laden die schönen Operettenmelodien vorgesungen. Wir haben viel Spaß gehabt. Über die Familie Schild kann ich nur Gutes sagen.“
Plötzlich grüßte man nicht mehr auf der Straße
Eric liebte nicht nur das Theater, sondern auch den Sport. Wegen seiner Erfolge auf den Sportplätzen war er bekannt im Ort. Und er war als Jude etwas Besonderes. Nur drei andere jüdische Familien lebten außer ihnen in „dem kleinen Nest“, wie Eric Schildkraut Selm nennt. Eigentlich, so scheint es in seinen Erzählungen, hätte das auch nie wirklich eine große Rolle gespielt im Alltag. Er ging erst auf die (katholische) Ludgerischule, dann aufs Gymnasium in Lünen. Die Eltern drängten ihn dann zu einer kaufmännischen Ausbildung, für die er kurz nach Wuppertal zog. Als sein Adoptivvater 1929 starb, kehrte er aber zu seiner Mutter nach Selm zurück.
Das Leben wie er es kannte, endete im Jahr 1933 jäh. Eine eng befreundete Familie grüßte seine Mutter plötzlich auf der Straße nicht mehr. Es kamen keine Kunden mehr in das Textilgeschäft. Und mit der Schauspielerei am Theater in Dortmund war es auch erst mal vorbei. „Der Intendant war ein Nazi, der gleich das ganze Theater umkrempelte. Und schon im März 1933 flog ich raus.“

Im Januar 1933 - also noch ein paar Monate vor der Machtergreifung der Nazis im März - war Bella Schild, die Mutter von Eric Schildkraut, angesichts des politischen Klimas in Selm buchstäblich in Ohnmacht gefallen. „Es war Folgendes passiert: Der Sportverein hatte keine Fahne für den Fackelzug am Abend und so nähten unsere Verkäuferinnen eine Fahne. Als dann der Fackelzug mit dieser Fahne bei uns vorbeizog, blieben sie vor unserem Fenster stehen und schrien: ,Juda verrecke!‘ – 30. Januar 1933“, erzählte Eric Schildkraut.
Auch das Haus, mit dem diese Erinnerung verknüpft ist, steuert er 1945 bei seiner Wiederkehr nach Selm an. Sein Elternhaus, Besitz seiner Mutter. Ein Arzt wohnte darin, der seit 1933 keine Miete mehr zahlte an „die Jüdin“. „Zu dem ging ich hin, und er tat so, als würde er sich freuen, und forderte mich auf reinzukommen. Ich sagte: ,Nein. In dieses Haus gehe ich erst, wenn Sie hier nicht mehr wohnen.‘“
Was ihn so kurz nach dem Krieg aber am meisten bewegt, ist eine sehr drängende Frage. Nämlich die, was aus seiner Mutter geworden ist. Nur deshalb ist er zurück in Selm. Er ist auf Spurensuche und hat vielleicht noch einen Funken Hoffnung, dass sie überlebt haben könnte.
Über ein Jahrzehnt lang auf der Flucht
1941 hatte er sie zuletzt gesehen. Da hatte er sie zu sich in Exil geholt - nach Belgien. Er selbst war schon seit 1933 auf der Flucht vor dem Naziregime - kehrte vor dem Ausbruch des Krieges noch einige Male zurück nach Deutschland - aus Heimweh. Über den Sport hatte Eric Schildkraut viele Kontakte und eigentlich auch Karriereaussichten. Der Nationalsozialismus und der Krieg sorgten schließlich aber dafür, dass er seine Schnelligkeit vor allem für eines nutzte: das Rennen um sein Leben.
Holland, Belgien, Frankreich - zwischen 1933 und 1945 war er immer unterwegs, immer auf der Flucht. Und ein paar Mal hätte er es wohl auch nicht geschafft, wenn er nicht so schnell hätte sprinten können.

1941 lebte er mit seiner Mutter zusammen im besetzen Belgien. Als er von einer Gestapo-Befragung heimkehrte, war sie nicht mehr da. Sie war festgenommen worden. Was aus ihr wurde? Auch kurz nach dem Krieg, bei seinem Besuch in Selm 1945, weiß Eric Schildkraut das noch nicht. Die Suche in der Ex-Heimat bringt zunächst keine Gewissheit. Wenig später erfährt er über die jüdische Gemeinde in Dortmund aber, dass seine Mutter ermordet wurde. Von Belgien aus war sie zunächst zurück nach Dortmund gebracht worden - in die Steinwache, das damalige Sammelquartier für Juden.
„Nachdem man sie registriert hatte, wurde sie entlassen und musste sich nach vier Tagen wieder melden. Dann wurden alle Juden aus Dortmund und Umgebung im Schlachthof untergebracht. Dort mussten sie wie die Tiere fünf Tage unterm freien Himmel bleiben, bis sie nach Zomosc in Polen deportiert wurden. Allein hatte sie keine Möglichkeit, sich zu retten. Sicher ist auch, wenn ich versucht hätte, die Mama zu retten, wir wären beide draufgegangen. Es war nicht möglich. Die Mama ist da umgekommen – vergast worden bei der Ankunft. Sie war 59 Jahre alt“, erzählte Eric Schildkraut in einem Interview in den 80er-Jahren.
Schauspielkarriere nach dem Krieg
Mit diesem Wissen will Eric Schildkraut erst mal wieder weg. „Zu dem Zeitpunkt wollte ich so schnell wie möglich wieder raus aus Deutschland. Ich habe keinem Menschen mehr geglaubt“, sagte er. Fürchterlich sei es gewesen, nach so vielen Jahren wieder in dem Land zu sein, in dem er aufgewachsen war. Und: „Ich kann nicht sagen, dass ich traurig war über die Ruinen.“
Er ging. Erst nach Brüssel, dann nach Paris. Mit der Sportlerkarriere hatte er - Jahrgang 1906 - im Jahr 1945 bereits mehr oder weniger abgeschlossen. Seine aktiven Jahre als Sprinter waren vorbei, als Trainer wollte er nicht arbeiten. Er konzentrierte sich beruflich auf seine zweite Leidenschaft: die Schauspielerei.
Hakenkreuze am Garderobenspiegel
Die war es schließlich auch, die ihn dann doch noch mal - und dann ab 1951 auch endgültig - nach Deutschland zurückkehren ließ. Auch, wenn das viele nicht verstanden. Leicht war es vor allem für Eric Schildkraut nicht. Nazi-Deutschland mag in Ruinen gelegen haben 1945, der Antisemitismus stieß dem Schauspieler Eric Schildkraut im Laufe seiner Karriere aber dennoch noch sehr oft entgegen. „Ich habe es jahrelang schwer gehabt hier. In Köln zum Beispiel hat man mir Hakenkreuze an den Garderobenspiegel geschmiert. Man fand nie heraus, wer es gewesen war. Ich ging mal durch die Kantine, da schrie einer hinter mir her: ,Na, das wird er schon selbst gewesen sein.‘“
Auch eine andere Szene aus einer Theaterkantine beschreibt Eric Schildkraut in einem Interview eindrücklich. Dort habe er zusammen mit seinem jüdischen Theaterfreund Fritz Kortner gesessen. „Wir sitzen in der Kantine und unterhalten uns. Und er guckt mich ganz lange an. Ich dachte, was will er jetzt? Da sagt er so: ,Willste hier bleiben?‘ ,Ja. Ich glaube ja. Sie sind ja auch hier.‘ ,Dann lass dir die Nase operieren.‘ Ganz ernst. Es war richtig ernst gemeint. ,Lass dir das wegmachen.‘ So hat er, so hat er gelitten.“

Eric Schildkraut wird ein bekannter Schauspieler und Hörbuchsprecher, tritt auf verschiedenen Theaterbühnen und im Fernsehen auf. Ab 1979 gehört er fest zum Ensemble des Thalia-Theaters in Hamburg.
Nach Selm kehrt er immer mal wieder zurück. Einmal gerät ihm dabei ein Buch in die Finger: „Selm, Bork, Cappenberg. Historische Ansichten von 1880 bis 1930“. Was ihn wundert: Dass darin kein Foto von der Landsynagoge in Bork ist, in der er - wie einige andere junge jüdische Männer - seine Bar Mitzwa gefeiert hat. Über diese Frage, die er auch an die Stadt Selm adressiert, kommt der Kontakt zu Heinz Cymontkowski zustande. Der Selmer Künstler hat viel geforscht zur jüdischen Geschichte in Selm, Bork und Cappenberg - und erinnert sich noch gut an seine Treffen mit Eric Schildkraut, wie er im Gespräch mit der Redaktion erzählt.
Entsetzt - so beschreibt Heinz Cymontkowski den Gesichtsausdruck von Eric Schildkraut, als er die Synagoge in Bork Anfang der 1990er-Jahre besuchte. Damals war das Gebäude noch nicht restauriert wie heute, sondern noch das Kohlelager, als das es seit den Nachkriegsjahren genutzt wurde.
Ein Foto von diesem Tag hat Eric Schildkrauts Irritation über den Zustand der ehemaligen Synagoge eingefangen. Es zeigt einen über 80-jährigen Mann in heller Strickjacke und großer Brille. Sein Gesicht sieht zerknirscht aus, die Augen traurig. Eine Momentaufnahme, die nicht unbedingt den Charakter Erik Schildkrauts widerspiegelt, wie auch Heinz Cymontkoswki sagt.
Er sei klein gewesen - und ungeheuer wortgewandt. Beate Lause und Renate Wiens, die ihn für ihr Buch „Theater Leben“ interviewt haben, beschreiben ihn als liebenswürdig. „Sein Wesen strahlt etwas Jungenhaftes-Verschmitztes aus, sodass man sein hohes Alter kaum wahrnimmt“, schreiben sie in dem 1990 veröffentlichten Buch. 1999 verstarb Eric Schildkraut in Hamburg im Alter von 92 Jahren.
Grabstein für Bella Schild
Nie, so fassen die Autorinnen zusammen, sei Eric Schildkraut Konflikten aus dem Weg gegangen. „Wann immer ihm Antisemitismus - besonders nach 1945 - begegnete, hat er lieber auf Engagements verzichtet, als sich anzupassen.“
Und es war ihm ein Anliegen, seine Geschichte zu erzählen und aufzuklären über die Ungerechtigkeiten. „Über 30 Familienmitglieder kann ich namentlich nennen, die umgekommen sind. Es ist nicht sehr erträglich, was ich zu erzählen habe“, sagte er. „Aber es gab ja auch nicht nur Antisemiten. In Selm lebte ein Händler, der immer auf den Markt nach Dortmund fuhr. An der Kirche war sein Marktstand aufgebaut. Er wickelte meiner Mutter immer etwas in Zeitungspapier ein und legte es heimlich in den Rinnstein. Meine Mutter kann dann vorbei und nahm es auf.“
Auf dem jüdischen Friedhof zwischen Selm und Bork hat Eric Schildkraut für seine im Konzentrationslager ermordete Mutter einen Grabstein aufstellen lassen - auch wenn sie dort nicht beerdigt ist. Zu dem Stein, zu der Erinnerung, ist er bis ins hohe Alter immer wieder zurückgekehrt.
Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist zum ersten Mal im Januar 2023 erschienen. Wir haben ihn erneut veröffentlicht.
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