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Holocaust-Überlebende in den USA: „Sie sind Flüchtlinge, wir müssen diesen Leuten helfen“
Jüdische Familien in Herbern
Als Gerda und Margret Samson in die USA kamen, waren sie mit einer für sie fremden Welt konfrontiert. Marilyn Golden erklärte uns, wie die Juden damals in Philadelphia ein neues Leben starteten.
Der Zweite Weltkrieg hat beispiellos viele Menschen das Leben gekostet, ihnen ihre Heimat und Existenz geraubt und sie zu Flüchtlingen gemacht. Viele Juden sind schon vor dem Ausbruch des Krieges ins Ausland geflohen. Viele wanderten aber auch nach Ende des Krieges ab 1945 aus. Allein die USA nahmen laut dem United States Holocaust Memorial Museum zwischen 1945 und 1952 rund 400.000 Geflüchtete auf. Etwa 96.000, so die Schätzung, waren Juden, die den Holocaust überlebt hatten.
Zwei von ihnen waren Gerda und Margret Samson aus Herbern. Gerda, so belegen es offizielle Dokumente, hatte sich nach einem Stopp in Chicago in Philadelphia niedergelassen. Dieser Einwanderungsprozess, so beschreibt es Marilyn Golden von der Jewish Genealogical and Archival Society of Greater Philadelphia im Gespräch mit uns, war damals ein besonderer. Nach dem Krieg ermöglichte eine Verfügung des damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman von 1945 16.000 jüdischen Vertriebenen die Einreise in die USA. Hunderttausende fanden laut Memorial Museum Zuflucht in den Lagern der Westalliierten.
Holocaust-Überlebende wurden in die ganze USA verteilt
Schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch vor dem Zweiten Weltkrieg, waren viele Juden in die USA ausgewandert. Das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) wurde nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, um Juden in Europa nach dem Krieg zu helfen. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Holocaust-Überlebenden in die USA kamen, sei die Hilfsbereitschaft groß gewesen, so Marilyn Golden.
Zum einen habe das JDC überall Büros gehabt, in denen sich die Neuankömmlinge melden konnten. „Du konntest in ein Büro gehen und sagen: Ich bin ein Bankkassierer, ein Lehrer oder ein Ingenieur. Welcher Job auch immer gebraucht wurde, du konntest dich eintragen und das Committee würde dich zu dem Ort bringen, an dem du gebraucht wurdest“, so Golden. Damals schon seien Züge durch das ganze Land gefahren. „Die Menschen sind entweder wegen des Jobs oder weil jemandes Cousin dort lebte in bestimmte Städte gefahren.“ Viele hatten Verwandte irgendwo in den USA, die Deutschland bereits früher verlassen hatten.
Viele Juden seien etwa als Bauern in Kansas gelandet, da dort zu der Zeit Bauern [farmer] gesucht worden waren. So seien auch ihre Großeltern in Ohio ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelandet, obwohl ihr Großvater gar kein Bauer gewesen sei, sagt Marilyn Golden und muss ein bisschen lachen. Auch, wer Ausbildung brauchte, dem half das JDC. Zum anderen habe es aber auch wohlhabende Juden wie Baron Maurice de Hirsch gegeben, die den Holocaust-Überlebenden, aber auch den Frühaussiedlern, mit Geld halfen. Dieser habe auch der Familie von Marilyn Golden geholfen, erzählt sie.
„In den 1940ern, als die Menschen in die USA kamen, wurde vielen geholfen. Viele haben sich assimiliert und sie haben sich tapfer geschlagen. Aber viele fühlten sich auch unwohl wegen der Sprachbarriere, der unterschiedlichen Gewohnheiten und Kulturen.“ Kein Jude sei wie der andere, manche hätten einen starken Akzent gehabt und ihre eigene Sprache gehabt, so Golden. Viele seien auch öfter unter sich geblieben. Viele eingeschworene Gruppen aus Europa seien zusammen mit Nachbarn und Verwandten nach Amerika gekommen, sie werden als sogenannte Landsmannschaften bezeichnet.
„Als sie hier angekommen sind, haben sie auch in derselben Nachbarschaft gelebt, sind in dieselbe Synagoge gegangen und sind gemeinsam auf demselben Friedhof beerdigt worden. So sei es auch in dem Fall der Eltern ihrer Tante gewesen, so Marilyn Golden. „Ihre Kinder haben zusammen gespielt, sie sind zusammen in Philadelphia aufgewachsen. Meine Tante ist jetzt die Freundin von jemanden, mit dem sie als Kind zusammen gespielt hat. Sie sind immer zusammen geblieben.“ Das liege auch vor allem an den geteilten Geschichten über ihre Eltern und Großeltern, die sie zusammenschweißten.
„Hab keine Angst, der Bäcker hat eine Nummer auf seinem Arm“
Sie selbst habe über den Holocaust erst als Jugendliche gelernt, erinnert sich Marilyn Golden, obwohl sie Jüdin ist. Mit ihrem Vater sei sie damals immer in dieselben Geschäfte gegangen: zum selben Bäcker, zum selben Schuhladen. „Wir gehen zum Bäcker, hab keine Angst, der Bäcker hat eine Nummer auf seinem Arm“, habe ihr Vater damals zu ihr gesagt. Auf die Frage, warum sie immer in diese Läden mit den Menschen mit den Nummern auf den Armen gingen, sagte ihr Vater dann: „Sie sind Flüchtlinge, wir müssen diesen Leuten helfen und ihre Läden unterstützten.“ So sei auch ihr Mann von seinen Eltern aufgezogen worden, so Golden.
In Philadelphia, das an der US-Ostküste liegt, seien damals vor allem etwa Bankkaufleute, Handwerker, Schneider oder Maschinisten benötigt worden. Die Menschen seien die Küste rauf und runtergewandert. Nach Baltimore oder weiter südlich. „Viele Unternehmen wurden in Süd-Philadelphia gegründet. Viele Juden sind im Süden geblieben“, so Golden.
In den 50ern habe es mehr Juden in Philadelphia gegeben als in Tel Aviv. Viele Synagogen seien damals von den sogenannten Landsmannschaften gegründet worden. Der Rabbi wohnte dann oft in der obersten Wohnung eines Gebäudes, im Erdgeschoss war dann meist die Synagoge.
Zogen die Landsmannschaften in einen anderen Stadtteil, zogen der Rabbi und die Synagoge meist mit. Manche Synagogen seien orthodoxer gewesen, manche reformiert. „Es gab Juden, die Jiddisch sprachen, manche sprachen Deutsch, manche Polnisch.“ Durch jiddische Schulen habe man versucht, die Sprache am Leben zu erhalten.
Bei diesem Bericht handelt es ich um einen Artikel, der zuerst am 12.11.2021 auf rn.de/herbern veröffentlicht worden ist.
Gebürtige Münsterländerin, seit April 2018 Redakteurin bei den Ruhr Nachrichten, von 2016 bis 2018 Volontärin bei Lensing Media. Studierte Sprachwissenschaften, Politik und Journalistik an der TU Dortmund und Entwicklungspolitik an der Philipps-Universität Marburg. Zuletzt arbeitete sie beim Online-Magazin Digital Development Debates.
