Der 15-jährige Mark saß nur noch vor dem Computer. Das ging soweit, dass er statt in die Toilette in leere Flaschen urinierte, nur um nicht aufzustehen zu müssen. Hilfe war dringend nötig.
„Gamers never die, we just respawn.“ Spieler sterben nicht, wir kehren nur wieder. Das ist einer von Marks Lieblingssätzen. Gewesen. Es gab eine Zeit, da hockte der 15-Jährige von morgens bis abends so lange vor seinem Computer, das er dieses Zurückbeamen quasi schon selbst lebte.
Mark zog sich so sehr in die virtuelle Welt zurück, dass er sein Zimmer nicht mehr verließ. Keine Schule. Keine Freunde. Keine Hobbies. Außer dem einen. Die niederschmetternde Diagnose: Gaming Disorder – Internet- und Computersucht.
Doch diese Diagnose sollte erst viel später gestellt werden. „Anfangs hatte ich einfach nur Angst, dass der Junge total abmagert“, erinnert sich seine Mutter Karin (Mitte 40, Name geändert).
Also brachte sie ihm Essen und Getränke bis an den PC. Erst als Mark dann in die leeren Flaschen urinierte, sich komplett hinter dem Bildschirm zurückzog und neben der Strafanzeige wegen Verletzung der Schulpflicht auch noch die Androhung von Sozialstunden ins Haus flatterte, suchte die Familie Hilfe bei einer Suchtberatungsstelle.
Inzwischen hat Mark seine Sozialstunden abgeleistet und nach langer Suche nach einem geeigneten Platz eine einjährige vollstationäre Therapie in der Dortmunder Elisabeth-Klinik hinter sich. Er geht wieder zur Schule, bleibt aber vermutlich sein Leben lang in ambulanter Behandlung.
Ein klassisches Beispiel
Marks Beispiel ist klassisch, weiß Dr. phil. Stefan Kimm, der seit 2013 in Dortmund die Spezialsprechstunde für Internetsucht bei Kindern und Jugendlichen betreut.
Klassisch sei nicht nur der Einstieg in die sogenannte Gaming Disorder, sondern auch der lange Weg bis zur Erkenntnis: „Mark war ja zunächst nur in der Familie auffällig, nicht aber nach außen. Er war nicht kriminell, hing nirgendwo rum, pöbelte niemanden an.“ Und dass Jugendliche in dem Alter in der Regel immer die Tendenz zeigten, etwas sehr exzessiv auszuleben, sei zunächst völlig normal.
Früher telefonierten Mädchen direkt nach der Schule stundenlang mit der besten Freundin, bis die Telefonleitung glühte, heute können sie sich nicht von den sozialen Medien wie Facebook und Co abwenden. Bei den Jungs sei es dagegen mehr die Computerspielsucht, die im Vordergrund stehe.
Das Spiel mache dabei nicht einfach nur Spaß, es kompensiere oft einen anderen psychischen Problembereich – frei nach dem Motto: „In meiner Welt ist etwas so belastend, dass ich mich lieber in eine andere Welt zurückziehe. Eine gesunde Portion von diesem Escapismus ist auch in Ordnung. Wenn ich aber immer seltener oder gar nicht mehr aus dieser Welt zurückkehre, wird es problematisch“, so Kimm.
Wann artet die Spielerei in eine krankhafte Störung aus?
Aber wann artet die Spielerei tatsächlich in eine - mittlerweile durch die WHO anerkannte - krankhafte Störung aus? Experten unterscheiden hier zwischen drei Stufen, angefangen mit dem pädagogisch problematischen Medienkonsum, der aber noch nicht schädigend ist.
In Phase zwei, dem sogenannten dysfunktionalen Medienkonsum, nähmen die Betroffenen Schädigungen wie etwa das Fernbleiben von Freunden und Hobbys bereits voll in Kauf. Diese Phase ist laut Kimm behandlungsbedürftig, wobei eine ambulante Gruppentherapie in der Regel ausreiche.
Nur Stufe drei bedeute eine echte Abhängigkeit, die wie in anderen Suchtbereichen auch, stationär behandelt gehöre. Mit einem Unterschied: „Abstinenz ist heute kein Behandlungsziel mehr. Das ist vom Tisch, weil es mit unserer Gesellschaft nicht vereinbar ist“, so Kimm.
Ziel sei es, die Bildschirmzeiten drastisch zu reduzieren, wobei auch Anbieter wie Telekom, Vodafone sowie 1&1 einen technischen Service anböten, mit denen per Fritzbox der Internetkonsum reguliert werden könne. Außerdem finden betroffene Eltern Hilfe beim Fachverband für Medienabhängigkeit sowie in Suchtberatungsstellen. Hier werden wohnortnahe Anlaufstellen bekannt gegeben.
Die gute Nachricht zudem: Die LWL-Klinik in der Haard bietet eine Spezialsprechstunde für Onlinesucht und Gaming Disorder nach dem Dortmunder Vorbild ein. Aktuelle Zahlen aus der Schwesterklinik legen nahe, dass der Bedarf groß ist und die Idee in der Haard einschlagen wird.
Die Zahlen
Obwohl die WHO „Gaming Disorder“ im Sommer 2018 als krankhafte Störung anerkannt hat, ist diese bislang nur in der Beta-Version des sogenannten ICD11-Codes vorgesehen. Das bedeutet: Offiziell gibt es die Diagnose noch gar nicht, das wird auch Expertenschätzungen zur Folge noch bis 2020 dauern.
Das macht es wiederum problematisch, Betroffenenzahlen zu erheben. Für Kinder und Jugendliche gibt es bislang keine Studien und auch die Forschung hinsichtlich der Behandlung ist noch sehr jung. Bekannt ist bisher nur, dass vor allem männliche Gamer - sie machen 90 Prozent aller Internetsüchtigen aus - zwischen zwölf und 25 Jahren betroffen sind.
Das Verhältnis zwischen pathologischen Spielern, also denjenigen, die sich krankhaft aus der realen Welt zurückziehen, und anderen Spielern liegt bei 10:1, in der Dortmunder LWL-Klinik sogar bei 8:1.
Weitere Zahlen aus der Dortmunder LWL-Elisabeth-Klinik: Pro Jahr suchen rund 60 Betroffene die Beratungsstelle auf. Etwa Dreiviertel von ihnen hat zumindest eine Behandlungsbedürftige Störung, wenn auch noch nicht unbedingt eine Abhängigkeit.
Acht bis neun Patienten starten jährlich mit der Therapie, allerdings bricht die Hälfte von ihnen vorzeitig ab. Das Eintrittsalter in die Onlinesucht liegt bei Jungen bei zwölf Jahren, bei Mädchen bei 15.
Das liegt laut Experten daran, dass die Spiele-Industrie vor allem auf männliche Protagonisten abzielt und Jungen in ihrer Entwicklung Mädchen etwas hinterher hinken, sie also die geistige Reife etwa zur normalen Konfliktlösung in der realen Welt nicht so schnell erreichen.
Durchschnittsalter liegt bei 16 Jahren
Das Durchschnittsalter bei Behandlungsbedürftigen Usern liegt in Dortmund bei 16 Jahren, bei stationär aufgenommenen Süchtigen bei 32 Jahren, wobei diese Gruppe sich permanent verjüngt.

Dr. Stefan Krimm und Dr. Katerina Popitz © Ina Fischer
Drei Fragen an Dr. Katerina Stetinova-Popitz, die eine Spezialsprechstunde für Internetsüchtige Kinder und Jugendliche an der LWL-Klinik Marl-Sinsen aufbauen möchte.
Was ist der Hauptgrund für den Einstieg in eine Gaming-Disorder?
Häufig gelingt es den Betroffenen nicht, in der realen Welt Kontakte zu knüpfen. Sie definieren ihr Selbstwertgefühl über die Internet-Gruppe und orientieren sich an ihr. Im virtuellen Raum erfahren sie Freundschaft leichter als in der Realität.
Klassisch betroffen ist der sozial unsichere Nerd mit relativ guten Noten, der aber wenig beliebt in der Schule ist. Er erlebt im realen Leben, dass er ein Versager, in der virtuellen Welt aber erfolgreich und geschätzt ist.
Zudem bietet das Netz Gestaltungsmöglichkeiten. Ich kann mir ganze Städte und Welten nach meinen Vorstellungen erschaffen. Ich kann damit Langeweile kompensieren oder ich zocke, um Anspannung abzubauen, um mich zu regulieren. Ich kann Nähe und Distanz selbst bestimmen und Konflikte durch vorgegebene Spielregeln lösen. Ich kann mir eine komplett neue zweite Identität in der virtuellen Welt schaffen und damit jegliche negative Gefühle kompensieren.
Problematisch wird es, wenn ich das Computerspiel als einzige Kompensationsmöglichkeit sehe.
Gibt es bestimmte Personengruppen wie etwa den Nerd, die ich besonders im Auge behalten sollte?
Besonders die sogenannte Komorbidität ist gefährlich. Das heißt, Kinder und Jugendliche etwa mit ADHS oder mit einem besonders hohen Aggressionsverhalten sind anfälliger für eine Störung, ebenso Kinder, die Konzentrationsprobleme haben, schlechte Noten schreiben und so Ablehnung in der Schule erfahren.
Da ist die Abwärtsspirale vorprogrammiert. Wobei die Frage ist, wer zuerst da war, die Henne oder das Ei. Spielt man, weil man Depressionen oder eine soziale Phobie hat, oder entwickelt man die Depression erst, weil man ständig nur im abgedunkelten Raum ohne reale Kontakte, ohne frische Luft und Bewegung verbringt?
Welche Risikofaktoren können Sie noch nennen?
Vor allem Ängste und negative Gefühle sind Auslöser. Neben der Angst vorm Erwachsenwerden kann das schlicht eine mangelnde Reife hinsichtlich Einfühlungsvermögen und Selbstbetrachtung sein oder eine fehlende Krisenbewältigung.
Das muss nicht unbedingt gleich eine Trennung der Eltern oder der Tod eines Elternteils sein, Auslöser kann auch schlicht der Wechsel aufs Gymnasium mit höherem schulischem Druck sein.
Bekomme ich generell negative Rückmeldungen aus meinem sozialen Umfeld, weil ich nicht so funktioniere wie die anderen, weil ich also der klassische Außenseiter bin, bin ich gefährdet und sollte die Spezialsprechstunde aufsuchen.
Zugezogen aus dem hohe Norden und geblieben – schon während des Journalistik-Studiums in Dortmund in die Schönheit des Ruhrgebiets ebenso verliebt wie in den Vater der gemeinsame kleinen Tochter. Deshalb: Nie wieder weg hier. Seit über 20 Jahren inzwischen freiberuflich für das Medienhaus Bauer und die Ruhr Nachrichten unterwegs – vor allem in Sachen Freizeit, Kultur und Gesundheit. Wichtiges Anliegen: Medizinische Themen gut und verständlich zu erklären.