Mitten im Corona-Chaos: Überforderung im Lockdown
Coronavirus
Über weinende Marketing-Managerinnen und nervende Kinder: Wie oft kann man der Chefin im Video-Meeting mit Wasserfarbe gemalte Bilder zeigen?, fragt unsere Kolumnistin Mareike Graepel.

Mit Apps und Online-Angeboten lässt sich die Zeit zuhause überbrücken und das Lernen ergänzen. © Mareike Graepel
„Eltern als Krisenmanager überfordert“, „Kitaschließung: Eine Männeridee“, und „Corona: Eltern wählen häufiger die Nummer gegen Kummer“ – das sind nur drei Überschriften aus den letzten 24 Stunden, die in meiner Facebook-Timeline und meiner Mail-Inbox in Form von Newslettern erscheinen.
Die Beiträge in den „Extra“-Sendungen nach den Nachrichten über weinende Marketing-Managerinnen, die im ersten deutschen Fernsehen Millionen von Zuschauern gestehen, dass sie ihre Kinder zu oft anmotzen, weil sie sich nicht gleichzeitig auf Job und Spielen konzentrieren können, oder über alleinerziehende Mütter, die Telefonkonferenzen wieder und wieder verschieben müssen, weil die dreijährigen Zwillinge gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit brauchen, treffen mich ins Mark.
Die Zwillingsmutter hat in der gleichen Woche an einem Tag versehentlich zwei Mal Mittagessen gekocht, weil sie vergessen hatte, dass sie schon gekocht hatte, und an einem anderen Tag vergessen, den Herd unter der Platte anzumachen, so dass das Essen viel zu spät fertig wurde und sie nicht pünktlich wieder mit Headset und Telefon am Rechner sein konnte – in der irrigen Hoffnung, ihre noch sehr kleinen Kinder würden sich mindestens 45 Minuten allein beschäftigen können.
Ich habe gestern das – von einer liebevollen Freundin extra für uns gekochte! Danke, Brigitte! – Risotto anbrennen lassen, weil ich gleichzeitig Wäsche aufgehängt habe und mit meinen Gedanken ganz woanders war. Überall war ich mit dem Kopf, nur nicht in der Küche.
Richtig Niesen, Husten, Mundschutz tragen - Übung macht den Meister
Ja, Kitas sind Virenschleudern, aber das sind Grundschulen auch, wie soll das nur alles gehen – wie sollen denn Viertklässler immer anderthalb Meter Abstand halten? Wir üben jetzt auf Anraten der Schulleitung schon mal Mundschutz tragen (woher nehmen und nicht stehlen? Selber nähen, auf mehr Masken in Apotheken hoffen? Erstmal recherchieren, welche sich am besten eignen? Gar nicht rauszugehen hat das Tragen eines Mundschutzes bislang für uns nicht notwendig gemacht, aber das wird sich ja jetzt ändern.), wieder und wieder das richtige Händewaschen und das Niesen und Husten in die Armbeuge.
Da unsere beiden Mädels in keinem Abschlussjahrgang sind und noch einige Wochen zu Hause bleiben müssen – ich finde es zwar nachvollziehbar, dass die nächsten Lockerungen noch keiner vorhersehen kann, und sie im Zwei-Wochen-Rhythmus besprochen werden sollen, aber auch extrem beunruhigend, immer weiter in der Ungewissheit-Dauerschleife zu hängen – wird das Arbeiten im Homeoffice weiter schwierig sein.
Kaum Beschäftigungsangebote und blanke Nerven
Und die soziale Dimension für so viele kleine Menschen wird deutlich: Besonders für die Kinder in Familien, die keine Beschäftigungsangebote und Lernmöglichkeiten bieten können (aus zeitlichen und/oder intellektuellen Gründen) und in denen die frühe Förderung so unglaublich wichtig wäre, wird die Zeit zuhause immer schwieriger.
Manche Kinder sprechen wochenlang kaum Deutsch, Konflikte und Belastungen führen immer mehr zu Gewalt. Ich kann mir das nur zu gut vorstellen – weil sogar mir, die es so gut hat, im Homeoffice arbeiten gewöhnt ist und die nur wenige Telefonkonferenzen, sondern meistens „nur“ Interviews zu machen hat, oft die Nerven blank liegen und ich viel schneller aus der Haut fahren könnte als sonst.
Trotz wachsender Abneigung gegen das frühe Aufstehen, damit ich schon viel geschafft kriege (und mein Optimismus Zeit hat, sich warm zu laufen vorm Frühstück), bevor die Kinder aufstehen, ziehe ich das durch. Das kann aber nicht jede/r, logisch. Manche Berufe funktionieren nur zu Bürozeiten. Wenn auch die Kinder wach und laut sind und Bedürfnisse haben. Und wie oft kann man der Chefin die mit Wasserfarben gemalten Bilder zeigen, mitten im Video-Meeting?
Kompromiss zwischen Wirtschaftsinteressen und Gesundheit
Ich gucke nach Dänemark und frage mich, wie die Entscheidung dort, als Erstes alle Bildungseinrichtungen wieder zu öffnen, in zwei Wochen wirken wird: Wird sie zur tödlichen Entscheidung geworden sein? Oder hat sie andere, mehr?, Leben gerettet? Wie viele nicht-lebensgefährlich erkrankte Corona-Patienten wiegen wie viel häusliche Gewalt, wie viele wirtschaftliche Katastrophen oder sogar Suizide auf? Wen rettet die Gesellschaft, wen lässt sie im exakt gleichen Moment untergehen?
Als vor einigen Wochen eine Jugend-Disco in einer ländlichen Gegend Irlands schloss, hagelte es online wüste Beschimpfungen der Teenager. Man mag ihnen einen Hang zur Melodramatik unterstellen, aber aus den aggressiven Tönen sprach vor allem: Verzweiflung, Angst, Wut, und die Unfähigkeit, planen zu können. Wohin mit sich, wenn man nirgendwo hin darf?
Wir sind keine typische Familie in Deutschland, Millionen andere leben ohne Balkon und ohne Garten, mit jüngeren Kindern oder mit älteren, sind deutlich ärmer (allein im Kreis Recklinghausen ist jeder sechste Haushalt von Armut bedroht, die noch einsamer macht) – und haben ihre eigenen, großen Probleme, die viel schwerer wiegen als meine. Die dürfen die Politiker nicht übersehen. Bitte.