Mitten im Corona-Chaos: Ich finde Reaktionen gut, die zum Nachdenken anregen
Coronavirus
Jammern wir zu viel über Kleinigkeiten? Sollten wir alle von uns selbst und unseren Kindern Respekt und Dankbarkeit dafür einzufordern, dass wir in Frieden leben und es gut haben?

Mit Oma per Video-Anruf in Kontakt zu bleiben, das kann bei schweren Kinder-Herzen ein bisschen helfen. © Mareike Graepel
Familienleben ist nie einseitige Kommunikation, sollte es zumindest nicht sein. (Erst recht nicht, wenn man gerade sonst niemanden zum Reden hat, außer über Video-Anrufe…) Das ist die Tageszeitung auch nicht, auch wenn sich das so anfühlt – meine Kolleginnen, Kollegen und ich freuen uns immer über Reaktionen.
Genau wie ich es mehr denn je genieße, bei dem einzigen Ausflug am Tag in dem einsamen Wald am Rande von Haltern (um den Stausee spazieren geht leider nicht, da „träfen“ wir viel zu viele Menschen) mit meinen Kindern über ihre Gedanken zu sprechen. Was haben sie auf dem Herzen? Was denken sie, was fühlen sie gerade?
Das – muss ich gestehen – frage ich, glaube ich, im Alltag viel zu selten. Während ich natürlich hoffe, bei den Beschreibungen unserer Situation an dieser Stelle auch den Leser*innen eine Begleitung oder Spiegel ihres eigenen Lebens zu sein, finde ich auch Reaktionen gut, die zum Nachdenken und zur Selbstreflexion anregen.
Glück im Unglück
Jammern wir zu viel über Kleinigkeiten? Ja, bestimmt. Sollten wir alle von uns selbst und unseren Kindern Respekt und Dankbarkeit dafür einzufordern, dass wir in Frieden leben und es gut haben? Ja, ganz sicher.
Wenn wir sonst den Sommer bei der irischen Oma verbringen, und mit dem Auto über mehrere Grenzen hinweg in die Normandie fahren, zum Fährhafen, erzählen wir von Zeiten, in denen das nicht so unkompliziert war.
Wir erklären, was das für ein unfassbares Glück ist, dass das überhaupt geht. Wir erzählen vom Kalten Krieg. Vom Zweiten Weltkrieg und vom Ersten. Wir erzählen, wenn wir entlang der Küste fahren, was dort passiert ist, 1944, was „D-Day“ bedeutet.
Ich gebe meinen Töchtern weiter, was meine Oma mir an jedem (!) Abend gesagt hat, wenn ich als Kind bei ihr zu Besuch war und wir bei den Heute-Nachrichten unsere Schnitten gegessen haben, und die Meldungen von Krieg und Unruhen und Tod sich nur durch geographische Details und unterschiedlich fremdklingende Ortsnamen unterschieden. „Das darf aber doch nie wieder passieren. Nie wieder.“
Respekt vor der Geschichte und der Gegenwart
Wir dürfen von unseren Kindern auch jetzt gerade (oder besonders jetzt?) erwarten, dass sie begreifen, wie gut sie es haben. Ich erwarte zumindest von meinen Töchtern Respekt vor der Geschichte ebenso wie vor der Gegenwart.
Ich will, dass sie wissen, was die Generation ihrer Großeltern und Urgroßeltern durchgemacht hat, damit wir heute in einem (weitgehend) friedlichen Europa leben können. In einem Land, das so umfassende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung umsetzen kann.
Auch, wenn mich die geschlossenen Grenzen und Reiseverbote mehr als gruseln, und ich mit Schrecken an die Menschen vor diesen Grenzen denke, die nichts haben und auch keine Aussicht auf bessere Zeiten: Im Vergleich zu den vielen, vielen Menschen in Flüchtlingscamps und Booten auf dem Mittelmeer geht es uns allen unbeschreiblich gut.
Das historische Gedächtnis pflegen
Natürlich ist uns allen aber auch bewusst, welche ganz eigenen Belastungen die Isolation und Einsamkeit dieser Wochen mit sich bringen. Für die Kinder heute ist die Situation sicher unglaublich viel einfacher als für Kinder in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts – und ich möchte am liebsten gar nicht wissen, wie viele tatsächlich im Moment den ganzen Tag vor iPad oder Fernseher geparkt werden –, aber man muss sich auch kurz ins Gedächtnis rufen: Die Kinder heute kennen nichts anderes, müssen das erzählt bekommen. Müssen lesen, Filme schauen, den Großeltern und Urgroßeltern zuhören, um ein historisches Gedächtnis zu pflegen.
Schulaufgaben online
Während ich diese Zeilen schreibe, macht Orla neben mir ihre Schulaufgaben. Ihre Lehrerinnen haben kleine Videos mit Aufgaben geschickt. Heute nachmittag wird Orlas Papa die Einkäufe vor die Wohnungstür der Oma in Datteln stellen, sagt er gerade.
„Darf ich mit?!?“ fragt meine Kleine mit leuchtenden Augen. Ich schüttele den Kopf, nein, das geht nicht. Orla beginnt zu weinen und ihre Tränen tropfen auf das Matheheft mit den großen Kästchen. „Oma fehlt mir sehr.“
Ich ziehe das Kind zu mir rüber, nehme es auf den Schoss und bringe es in diesem Moment doch nicht übers Herz, ihr als Trost zu sagen: Aber du hast es doch so gut. Das kann ich auch später noch tun.