Julia Wissert (39), Schauspiel-Intendantin am Theater Dortmund, sieht sich auch drei Jahre nach dem Start ihrer Intendanz, immer noch mit denselben Vorwürfen konfrontiert: das Publikum vergrault, das Schauspiel zu einem Experimentallabor verwandelt, zu wenige künstlerische Erfolge.
Zu einer entsprechenden Generalkritik holte kürzlich ein Bericht in der WAZ aus, der auch beim Gala-Abend zum 40-jährigen Bestehen des Fördervereins Dortmunder für ihr Schauspiel thematisiert wurde. Raphael Westermeier, Moderator des Abends, sagte in einer persönlichen Erklärung, manche aktuelle Presse sei in ihrer Destruktivität kaum auszuhalten.
Unter anderem ging es um die Auslastungszahlen. Dabei scheint hier nach dem Intendanzwechsel in der ersten Corona-freien Spielzeit die Talsohle durchschritten. Nach dem neuesten Quartalsbericht des Theaters Dortmund, der dem Kulturausschuss zu seiner Sitzung am Dienstag (23.5.) vorliegt, ist die Auslastung des Schauspiels von 22,35 Prozent (ohne Freikarten) im Vorjahresvergleichszeitraum auf 48,33 Prozent gestiegen.
Ein Rang gesperrt
Der Medienbericht hinterfragt die Aussagekraft dieser Zahlen; denn das Schauspiel arbeite mit einem statistischen Trick, lege zum Beispiel den vor allem von Schülern gut besuchten Abiturstoff „Woyzeck“ ins Studio mit gerade mal 95 Plätzen und erreiche so schnell eine Auslastung von 100 Prozent. Bei „Der Gott des Gemetzels“ im großen Haus mit fast 500 Plätzen wiederum schließe man einen ganzen Rang. Diese Plätze tauchten dann nicht mehr in der Statistik auf, und schon habe man eine bessere Auslastung.
Das Schauspiel hält auf Anfrage dagegen: „Ja, der Rang wird für ‚Der Gott des Gemetzels‘ geschlossen. Das Stück ist ein Kammerspiel und durch das Aussparen des Rangs können wir einen intimeren Rahmen herstellen. Es ist das einzige Stück mit geschlossenem Rang“, erläutert Schauspiel-Sprecherin Djamak Homayoun.
Einen Rang abzusperren, ist auch kein Alleinstellungsmerkmal des Schauspiels. Auch im Opern- und im Konzerthaus werden laut Sprecher Alexander Kalouti bei bestimmten Produktionen schon mal Plätze gesperrt – in dieser Spielzeit aus Sicherheitsgründen bei der sehr gut besuchten Kinderproduktion „Das Geheimnis der Zauberflöte“. Es bestehe sonst Absturzgefahr für die Kinder. Das Angebot reduziert sich damit von 1168 auf 982 Plätze.
Nur Planzahlen
Im Konzerthaus werde die Chorempore seit rund 15 Jahren bei Konzerten der Dortmunder Philharmoniker nicht verkauft. Kalouti: „Gründe dafür sind die ungünstigen Sicht- und Hörverhältnisse für das Publikum, die im Rücken des Orchesters sitzen. Hier werden statt 1504 Kapazitätsmöglichkeiten circa 1375 Plätze angeboten.“
Der WAZ-Bericht unterstellt dem Schauspiel eine andere Motivlage als Oper und Philharmonie und rechnet weiter vor: Von August 2022 bis Februar 2023 seien bei 106 Vorstellungen keine 116 Menschen pro Abend im Schauspiel gewesen. Djamak Homayoun erklärt dazu, diese Zahlen seien nur die geplanten Ansätze aus dem Wirtschaftsplan, also die Erwartungen der Sparte, die tatsächlichen Ist-Zahlen folgten erst im nächsten Quartalsbericht.
Doch Stimmen aus dem etablierten Theaterpublikum kritisieren tatsächlich Wisserts Programm, und manche orientieren sich um zu anderen Bühnen im Umfeld Dortmunds – und das, obwohl Julia Wissert nach Kritik auch aus der Politik Klassiker wie Shakespeare und Büchner sowie Publikumsmagneten wie „Der Gott des Gemetzels“ in den Spielplan aufgenommen hat.
Kulturdezernent stützt Wissert
Stadtdirektor Jörg Stüdemann, Kämmerer und Kulturdezernent in einer Person, stärkt der Intendantin den Rücken. Für ihn sei entscheidend, ob die angegebenen Planergebnisse aus dem Wirtschaftsplan, den der Rat zusammen mit dem Spielplan abgesegnet habe, erreicht würden. Und die habe das Schauspiel sogar übertroffen – auch weil das Schauspiel, wie alle anderen Sparten ebenfalls, nach Corona noch sehr vorsichtig kalkuliert habe.
Prozentuale Auslastungsmuster gäben Orientierung, so der Kämmerer weiter, seien aber auch immer interpretationsbedürftig. „Der physikalische Raum ist etwas anderes als die verkaufte Kapazität.“ Für den Wirtschaftsplan sei es unerheblich, ob man 10 Mal 450 Plätze oder 12 Mal 400 Plätze besetzt habe, wenn die übrigen Produktionsparameter wie Einnahmen und Personaleinsatz stimmten. „Entscheidend ist immer das, was sich die Sparten vorher überlegen, und dass das Einnahmeziel erreicht ist.“
Einnahmen erzielt Julia Wissert weniger aus Eintrittskarten, sondern durch Einwerbung von Fördermitteln für sogenannte Outreachprogramme, mit denen man Menschen ins Theater holen will, die aus eigenen Stücken dieses Kulturangebot bislang nicht wahrnehmen.
Üppige Förderung
Julia Wissert sei mit der Ausrichtung ihres Spielplans mit Themen wie Rassismus, Feminismus und Diversität für die Erfinder dieser üppig ausgestatteten Förderprogramme, darunter das NRW-Kultursekretariat, die Landeszentrale für politische Bildung und die Bundeskulturstiftung, sehr interessant gewesen, berichtet der Kämmerer. Er räumt aber ein, dass die große Welle dieser Programme vorbei sei und kaum zu nachgehenden Theaterbesuchen geführt hätten.
Dennoch: Das Schauspielpublikum sei nach „der ersten stabilen Saison schon sehr viel gemischter geworden“, stellt Stüdemann fest. Eine Entscheidung für ein bestimmtes Profil sei auch eine Entscheidung darüber, dass nicht alle kommen. Bei einem Haus mit sechs mehrheitlich sehr erfolgreichen Sparten könne man in einer Sparte ein Risiko eingehen.
Wisserts erster Vertrag läuft noch zwei Spielzeiten. Doch nach dem Sommer werde man über die Perspektiven der Intendantin sprechen, kündigt der Kulturdezernent an: „Ich kann mir eine Vertragsverlängerung gut vorstellen.“ Entscheiden werde aber die Politik.
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