Nach dem Wolfsgruß-Jubel des türkischen Nationalspielers Merih Demiral wird auf höchsten Ebenen über den rechtsextremen Gruß diskutiert. Die UEFA ermittelt, die Bundesregierung kritisiert den Jubel scharf. Die Türkei bestellte als Reaktion darauf den deutschen Botschafter ein.
Doch der Gruß wird längst nicht nur auf dem Platz gezeigt, sondern war während der EM-Spiele in Dortmund zahlreich auch bei den ansonsten friedlichen und stimmungsvollen Feiern von Fans der türkischen Nationalmannschaft zu beobachten – und auch bei albanischen Fan-Feiern nutzten Anhänger der albanischen Nationalmannschaft die Bühne Fußball zur Präsentation nationalistischer Symbole.
Zunächst richten wir den Blick aber auf die Symbolik der „Grauen Wölfe“: Der sogenannte Wolfsgruß (abgespreizter Zeigefinger und kleiner Finger bei zusammengelegtem Daumen, Mittel- und Ringfinger) ist eine Geste, die in Deutschland nicht verboten ist, aber als Bekenntnis zur „Ülkücü“-Ideologie verstanden werden kann.
Die Ülkücü-Bewegung (übersetzt „Graue Wölfe“) vertritt in weiten Teilen ein geschlossen faschistisches und ultranationalistisches Weltbild, das eine türkische Großnation idealisiert und Andersgläubige ausschließt. Der Wolfsgruß ist ihr Erkennungszeichen.
Wolfsgruß: Bekenntnis zu Faschisten
„Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus prägen die Ideologie der türkischen Ülkücü-Bewegung“, schreibt der Verfassungsschutz über die Gruppe. „Doch auch wenn das Zeigen des Wolfsgrußes ein Bekenntnis zur ,Ülkücü‘-Ideologie ist, muss nicht jeder Verwender dieses Grußes ein türkischer Rechtsextremist sein.“ Auf Kundgebungen werde er teils auch zur Provokation gezeigt, heißt es vom Verfassungsschutz.
Doch wer dieses Symbol zeige, sei sich dessen Bedeutung sehr wohl bewusst, sagt der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Ahmet Toprak von der FH Dortmund. Er forscht unter anderem zu Migration und Radikalisierung. Ihn überrascht nicht, dass der „Wolfsgruß“ auch im Zuge des Spiels der türkischen Nationalmannschaft gezeigt wurde.
„Der Wolfsgruß ist in der Türkei salonfähig. Da wird nicht groß drüber nachgedacht, man ist eher stolz darauf. Es wird nicht als Problem gesehen“, sagt Toprak. Der Gruß sei in der Türkei das Markenzeichen der faschistischen und ultranationalistische Partei MHP, die mit der Partei von Präsident Erdogan eine Koalition gebildet hat. „Der Gruß wird sehr öffentlich gezeigt, auch im türkischen Fernsehen“, sagt der Wissenschaftler.
Der Wolfsgruß ist auf zahlreichen Bildern zu finden, die unsere Redaktion an Spieltagen der Türkei gemacht hat. Viele Menschen schienen keine Scheu davor zu haben, dieses Zeichen bewusst in eine Kamera zu zeigen. Eine Sanktionierung von anderen konnten wir nur in wenigen Fällen beobachten, etwa als ein Fan einem anderen sagte, er solle diesen „Mist lassen“.
„Es geht um Emotionen“
„Zu sagen, man ist Nationalist, ist in der Türkei anders als in Deutschland nicht negativ behaftet“, sagt Toprak. Auch einige türkischstämmige Menschen, die in Deutschland leben, würden die in der Türkei von der MHP oder Erdogans Partei AKP verbreiten Ansichten teilen. Das habe unter anderem historische und familiäre Gründe. Denn der Großteil der türkischstämmigen Menschen, die im Ruhrgebiet leben, kommen aus Gebieten, in denen beide Parteien stark sind.
„Hinzu komme, dass man gegenüber dem westlichen Europa zeigen will: ,Wir sind wer und wir können etwas.‘ Durch stockende Beitrittsverhandlungen, die ja auch wesentlich auf die türkische Politik zurückzuführen sind, fühlt man sich nicht ernst genommen“, sagt Toprak. Der Fußball sei eine Plattform, um das Gegenteil zu beweisen und diesen Nationalismus zeigen zu können. „Dafür muss man nicht viel von Fußball verstehen. Es geht um Emotionen.“

Viel Leidenschaft und Emotionen zeigten auch die albanischen Fans beim EM-Spiel zwischen Albanien und Italien in Dortmund, aber eben auch umstrittene Symbole. In einem Video von der Hansastraße in Dortmund ist eine Flagge zu sehen, die den Umriss eines Gebiets zeigt, das nicht nur das aktuelle albanische Staatsgebiet umfasst, sondern auch Teile von Griechenland, Serbien, Mazedonien, und Montenegro sowie den kompletten Kosovo. Im deutschen Sprachraum wird sie oft als Großalbanien-Flagge bezeichnet. Weil diese Flaggen auch im Stadion auf mehreren Rängen gezeigt worden waren, hat die UEFA eine Disziplinarstrafe von 10.000 Euro gegen Albanien verhängt.
Auf der Flagge ist der albanische Doppeladler zu sehen. Zudem zeigt die Flagge zwei Unabhängigkeitskämpfer. Die Flagge sei „politisch brisant in der Symbolwirkung, die sie gegenüber anderen Nationen haben soll und auch hat“, sagt Dr. Konrad Clewing. Er ist Historiker und Balkanexperte am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.
Eklat bei Qualifikationsspiel
Ihre Anwendung sei „unerfreulich zu sehen“. Zum einen, weil andere Nationen es als albanisches Anspruchsdenken auf ihr Staatsgebiet verstehen. Zum anderen wegen eines Vorfalls im Jahr 2014: Bei einem EM-Qualifikation-Spiel zwischen Serbien und Albanien in Belgrad wurde eine solche Flagge an einer Drohne ins Stadion geflogen. Serbische Spieler und Fans waren angesichts dieser Provokation außer sich. Es kam zu Schlägereien auf dem Feld. Das Spiel wurde abgebrochen.
Die Umrisse, die auf der Flagge zu sehen sind, seien das Raumbild, das einer anti-osmanischen Nationalbewegung um 1878 entsprungen sei und das die Vorstellung eines albanischen Gebiets geprägt habe. In einem anderen Verständnis zeige sie das Gebiet, auf dem ethnische Albaner im Balkan leben. „Die Flagge ist gleichzeitig eine Aussage und ein Zitat“, sagt Clewing und meint damit zum einen das Bild eines albanischen Zusammenhanges über die aktuellen Staatsgrenzen hinweg, aber auch die Erinnerung an die erfolgreiche Provokation der Serben beim EM-Qualifikationsspiel im Jahr 2014.
Der Fußball habe für die Albaner eine große Bedeutung. Parallel zu einem wirtschaftlichen Aufschwung im Land hat sich auch die Fußball-Nationalmannschaft positiv entwickelt. „Der Fußball korreliert mit dem Gefühl: ,Es geht voran.‘“ Außerdem sei der Fußball für die Identifikation für die Albaner, die nicht auf albanischen Staatsgebiet leben, besonders wichtig.
Rund 90 Prozent der im Kosovo lebenden Menschen sind ethnische Albaner. Auch in Nordmazedonien sind rund 25 Prozent der Menschen Albaner. In der Nationalmannschaft laufen Spieler aus allen drei Ländern auf, da auch Kosovaren und Nordmazedonier als ethnische Albaner leicht eine Staatsbürgerschaft bekommen können.
„Die wenigsten Albaner, die in Deutschland leben, kommen aus Albanien, sondern aus dem Kosovo oder Nordmazedonien. Für die wiederum ist es wichtig, sich selbst zu definieren und ihre albanische Identität zu demonstrieren“, sagt Clewing. Auch deshalb würden sie solche Flaggen zeigen, um zu verdeutlichen: „Das sind wir und uns gibt es“, sagt der Südosteuropa-Experte.

Unserer Redaktion wurde außerdem ein Foto aus dem Stadion zugesendet, das einen albanischen Fan in einer Uniform der Ushtria Çlirimtare e Kosovës (UÇK) zeigt. Die „Befreiungsarmee des Kosovo“ war eine paramilitärische Organisation, die in den 1990er-Jahren gegen die serbische Herrschaft im Kosovo und für dessen Unabhängigkeit kämpfte. Aus Sicht der Serben sei die UÇK eine Terrororganisation gewesen. Wissenschaftlich sei sie aber am besten als Guerilla-Organisation zu beschreiben, die im Kosovo gegen serbische Truppen gekämpft hat, erklärt Clewing. Sie existiert nicht mehr.
„Es ist eine teils historische Reminiszenz an das, was die Albaner als Befreiung Kosovos verstehen.“ Es sei eine Selbstvergewisserung und eine Antwort auf fortbestehende serbische Ansprüche auf den Kosovo, mit der man zeigen wolle: „Wir haben uns schon mal erfolgreich gewehrt und würden es gegen die Serben wieder tun.“
„Absolut jede Nation hat das“
Andrei Markovits überraschen weder die Vorfälle bei den türkischen noch bei den albanischen Fans. Bis vor wenigen Wochen lehrte Markovits Soziologie, Politik- und Kulturwissenschaften an der Universität Michigan und forschte dabei unter anderem zu Fußballfans. Für die EM hat die TU Dortmund ihn für Vorträge als „Fußballprofessor“ nach Dortmund geholt: „Deshalb hasse ich Länderfußball“, sagt Markovits.
„Beim Fußball geht es um Identität. Im Fall der Nationalmannschaften ist mit dem ,Uns‘ und ,Wir‘ der Fußballfans dann eben die Türkei oder Albanien gemeint und kein Verein.“ Das führe unweigerlich zu Nationalismus. „Absolut jede Nation hat das.“ Markovits erinnert sich daran, wie bei der WM 2006 in Dortmund gegen Polen die erste Strophe des Deutschlandlieds gesungen worden sei.

Im Sport sei dieser Nationalismus besonders ausgeprägt, da es per Definition einen Gegner gebe: „Es ist die Türkei gegen ..., oder Deutschland gegen ...“ In jedem Spiel suche der Fußballfan beim Gegenüber etwas Schlechtes, sagt Markovits. Das sei bei Dortmund gegen Bayern so, aber eben auch zwischen den Nationalteams. „Man selbst versteht sich als die Guten.“
Ein solches Turnier habe „Bonding-Capital“ und „Bridging-Capital“. Das „Bridging-Capital“ führe dazu, dass die Fans verschiedener Nationen gemeinsam feiern, da der Fußball als Brücke zwischen den Nationen aufgebaut werde. Das „Bonding-Capital“ wirke nach Innen und sei stärker. So sei auch die Verbindung etwa innerhalb der italienischen Fans stärker als zwischen den Fans anderer Nationen, sagt Markovits. Beide Ausprägungen würden beim Fußball je nach Situation zutage treten. „Es ist Teil des Fan-Seins.“
„In welcher anderen Situation kommen zehntausende Menschen zusammen? Wenn man seine Flaggen dort legitim zeigen darf, zeigt man auch andere Symbole, die in einem anderen Kontext stehen“, sagt Markovits. Eine soziale Kontrolle innerhalb der Fanszenen gebe es bei Nationalmannschaften selten. Dass es zu nationalistischen Vorfällen während der EM kommt, verwundert den Fußballprofessor nicht.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. Juni 2024. Wir haben ihn angesichts der Diskussion um den Wolfsgruß-Jubel des türkischen Spielers Merih Demiral aktualisiert.
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