Wie stufen die Sicherheitsbehörden die Terrorgefahr zur EM ein?
„Die Gefahr ist abstrakt hoch, und wir nehmen sie ernst, damit aus abstrakt nicht konkret wird“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Im Vorfeld der EM gab es immer wieder Aufrufe von Terrororganisationen. So hatte ein Ableger der Dschihadisten-Miliz Islamischer Staat über sein Propagandamagazin „Stimme von Khorasan“ kürzlich zu Anschlägen während der Fußball-Europameisterschaft aufgerufen. In der Abbildung ist eine Person in Tarnkleidung und mit einem Maschinengewehr vor einem verlassenen Fußballstadion zu sehen. Über dem Bild stehen die Namen der Städte Dortmund, München und Berlin, begleitet von dem Aufruf: „Dann schieße das letzte Tor“. Diese Formulierung, kombiniert mit der kriegerischen Darstellung, lässt sich als direkte Aufforderung zu einem Anschlag interpretieren.
Warum greifen Terroristen überhaupt Europa an?
Die Terroristen greifen den Westen an, weil sie es als Reaktion auf die militärischen Angriffe der westlichen Länder gegen den Islamischen Staat (IS) sehen – zum Beispiel im Irak oder Syrien. Laut Ulf Brüggemann, Referent an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin, ist der IS der Ansicht, dass der Westen aufgrund seines Materialismus und persönlichen Nutzdenkens nicht den Willen und die Opferbereitschaft für einen lang andauernden und harten Kampf hat. Diese Einschätzung führt dazu, dass der IS versucht, die westlichen Gesellschaften durch Anschläge zu untergraben und ihren Willen zur Kriegsführung zu schwächen.
Was für Anschläge sind bei der EM denkbar?
Auf die Fußball-Europameisterschaft schaut die ganze Welt. Terroristen könnten diese Öffentlichkeit nutzen wollen. Die Terroranschläge des IS in Paris während des Spiels zwischen der deutschen und französischen Fußball-Nationalmannschaft im Jahr 2015 sowie der Angriff auf schwedische Fußballfans in Brüssel im vergangenen Jahr belegen, dass die Sorge um die Sicherheit bei öffentlichen Großveranstaltungen grundsätzlich berechtigt ist. Es gibt viele Szenarien, die denkbar sind. Das muss nicht gleich ein Sprengstoffanschlag sein.
Allein ein Drohnenflug im Stadion könnte eine Massenpanik mit schweren Folgen auslösen. Auch die großen öffentlichen Plätze, in denen sich viele Fans aufhalten, stehen unter besonderer Beobachtung. „Wenn dort ein Extremist mit einem Messer unterwegs ist, dann löst das ebenfalls eine Massenpanik aus“, sagt Innenexperte Marc Lürbke (FDP). Der Schweizer Terrorexperte Johannes Saal betont, dass Anschläge auf sogenannte „weiche Ziele“ wie Stadionzufahrten oder Public Viewings wahrscheinlicher sind, da die Sicherung großer Menschenansammlungen in solchen Bereichen schwieriger sei.
Wie viele Gefährder gibt es in NRW?
Der Staatsschutz zählt laut Innenministerium NRW derzeit rund 180 Gefährder in Nordrhein-Westfalen. Im Bereich des polizeilichen Staatsschutzes wird zwischen „aktionsfähigen“ und „nicht aktionsfähigen“ Gefährdern unterschieden. Eine Einstufung als „aktionsfähig“ bedeutet, dass sich diese Personen weder in Haft befinden noch im Ausland aufhalten oder eventuell in Kriegsgebieten getötet worden sind. Von diesen Personen geht somit grundsätzlich ein höheres Aktionspotential aus. Darüber hinaus werden keine weiteren Aufschlüsselungen öffentlich gemacht, weil sonst Rückschlüsse auf Einzelpersonen möglich wären.
Wie werden diese Gefährder beobachtet?
Die Sicherheitskräfte in NRW halten ein ständiges Auge auf Personen, die sie als potenzielle Gefahrenquellen einstufen. Sie sammeln Informationen und bewerten diese Leute regelmäßig, um herauszufinden, ob und welche Art von Risiko von ihnen ausgeht. Basierend auf dieser Bewertung arbeiten sie ein speziell angepasstes Überwachungs- und Eingreifkonzept aus. Die Möglichkeiten reichen von Telefon- und Internetüberwachung bis hin zu Beschattungen und Festnahmen.
Bis zu 20 Einsatzkräfte werden benötigt, um einen Gefährder rund um die Uhr im Blick zu behalten. Das sei jedoch nicht lückenlos möglich, sagt der Sprecher im Innenausschuss des Landtages NRW, Marc Lürbke (FDP). Ihm liege es fern, Panik zu schüren. Und doch müsse man die Risiken beim Namen nennen. „Es ist einfach faktisch nicht möglich, jeden Gefährder und jede relevante Person, der man eine extremistische Tat zutraut, unter enge Beobachtung zu nehmen. Dafür sind unsere Sicherheitsbehörden personell nicht ausgestattet.“ Staatsschutz, Verfassungsschutz und Polizei kämen hier an ihre Grenzen.

Von wem geht die größte Gefahr aus?
Im Mittelpunkt der Aufrufe von jihadistischen Organisationen stehen Anschlagsszenarien mit einfachen Tatmitteln und niedrigem logistischen Aufwand. Auf der einen Seite können sich von diesen Aufrufen den Sicherheitsbehörden bekannte Gefährder angesprochen fühlen. Auf der anderen Seite aber auch bislang nicht in Erscheinung getretene Einzeltäter, die sich zu Hause in ihren eigenen vier Wänden unbemerkt radikalisieren. Radikalisierungen im Verborgenen, gepaart mit einer hohen Gewaltbereitschaft, stellen die wohl größten Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden dar, heißt es vom Ministerium. Einige Täter seien noch sehr jung, Jugendliche und zum Teil auch noch Kinder, die sich vermehrt im Internet bewegen und sich mit Gleichgesinnten in Chats oder über Messengerdienste austauschen. „Ihnen auf die Schliche zu kommen, ist fast unmöglich“, sagt Marc Lürbke.
Welche Gefahren gehen konkret von Drohnen aus?
NRW-Innenminister Herbert Reul nimmt die Gefahr durch Drohnen im Stadion ernst, da moderne Modelle aufgrund ihrer Leichtigkeit leicht eingeschmuggelt und für die Beförderung gefährlicher Traglasten genutzt werden können. Sascha Berndsen, Leiter der Drohnenabwehr bei der NRW-Polizei, warnt vor der Bedrohung und betont, dass „Drohnen Instrumente sind, mit denen jedermann gefährliche Traglasten befördern kann“. Allein das Aufsteigen einer Drohne könnte zu Panik im Stadion führen.
Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, hat die Polizei umfassende Sicherheitsmaßnahmen für alle EM-Stadien in den EM-Städten vorbereitet. Besonders wichtig ist der Einsatz spezialisierter Fahrzeuge mit schultergestützten Störsendern, die anfliegende Drohnen mittels elektromagnetischer Störstrahlung stoppen können. NRW-Innenminister Herbert Reul unterstreicht die Vorreiterrolle von NRW in der Drohnenabwehr und betont, dass die Polizei über eine breite Palette an Maßnahmen und Technologien verfügt, um die Sicherheit während der EM zu gewährleisten.
Gleichzeitig herrscht über allen EM-Stadien während der Spiele Flugverbot für Flugzeuge.

Wie sehen die Sicherheitsvorkehrungen im Dortmunder Stadion aus?
Die UEFA als Veranstalter greift auf den Ordner-Pool von Borussia Dortmund zurück, wird aber rund um Spieltage deutlich mehr Ordner im Einsatz haben als zu Bundesliga-Spielen. Eine besondere Schulung für die EM gibt es nicht. „Alle Ordner haben die Qualifizierung des DFB durchlaufen und sind somit auch für die EM entsprechend gerüstet“, sagt Christian Hockenjos, Direktor Organisation bei Borussia Dortmund. Der Verein hat das Stadion zwar an die UEFA übergeben, ist als Betreiber aber auch bei der EM involviert.
Rund um das Stadion ist eine Sicherheitszone eingerichtet, die für den öffentlichen Autoverkehr gesperrt ist. Bereits am Montag haben Polizeihunde das Stadion nach Sprengstoffen abgesucht. Seitdem steht es unter ständiger Bewachung von Sicherheitskräften. Selbst Stadion-Chef Hockenjos hat ohne Ausweis keinen Zutritt.

Welche Erfolge kann die Terrorabwehr in NRW vorweisen?
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU): Tatsächlich haben die Sicherheitsbehörden in den vergangenen drei Jahren mindestens acht Anschläge vereitelt. Zum Beispiel den im Jahr 2021 geplanten und verhinderten islamistisch motivierten Sprengstoffanschlag auf die Synagoge in Hagen durch einen 16-jährigen Mann. Dann die Planung eines rechtsmotivierten Anschlags durch einen 16-Jährigen auf seine Schule in Essen im Jahr 2022. Zum Jahreswechsel 2022/23 fanden Festnahmen in Castrop-Rauxel statt, wo mittlerweile ein iranischer Staatsangehöriger mit Kontakten zum Islamischen Staat (IS) zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen Anschlagsplanungen mit Giftstoffen verurteilt wurde. Und im Juli 2023 wurden sieben mutmaßliche Mitglieder einer islamistischen terroristischen Vereinigung in einem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts in Nordrhein-Westfalen festgenommen. Die Personen zentralasiatischer Herkunft mit Kontakten zu im Ausland befindlichen Mitgliedern des ISPK (afghanischer Ableger des IS) wollten öffentlichkeitswirksame Anschläge in Deutschland begehen.
Zuletzt gab es Festnahmen von drei Jugendlichen aus Düsseldorf (15 Jahre alt, weiblich), dem Märkischen Kreis (15 Jahre alt, männlich) und dem Landkreis Soest (16 Jahre alt, weiblich) zur Osterzeit. Sie sind dringend verdächtig, einen islamistisch motivierten Terroranschlag geplant und sich zu dessen Begehung bereiterklärt zu haben.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei all diesen erfolgreich verhinderten Anschlägen oder Gefahrensachverhalten es im April 2023 auch den ersten islamistisch motivierten Anschlag in Nordrhein-Westfalen, in Duisburg, mit einem Getöteten gab. Der Täter war vorher nicht aufgefallen und hat sich über das Internet radikalisiert. „Das macht noch einmal deutlich, dass es bei allen Anstrengungen der Sicherheitsbehörden keine hundertprozentige Sicherheit gibt“, sagt Herbert Reul. Sehr häufig helfen ausländische Nachrichtendienste dabei, diese Anschläge zu verhindern.

Warum sind ausländische Nachrichtendienste effektiver als deutsche?
Das Hauptproblem liegt am strengen Datenschutz in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, worauf Herbert Reul hinweist. Er betont, dass Deutschland nicht noch abhängiger von ausländischen Nachrichtendiensten werden darf. Dementsprechend fordert er, dass der Bundesgesetzgeber ein nationales Gesetz schaffen soll, das die Ausnahmen von einer generellen und anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, wie vom Europäischen Gerichtshof definiert, vollständig umsetzt. Insbesondere die Speicherung von IP-Adressen, Postnummern sowie Verkehrs- und Standortdaten sei für eine effiziente Terrorismusbekämpfung unverzichtbar. Weiterhin betont er die Wichtigkeit eines schnellen Erkenntnisaustauschs zwischen Sicherheitsbehörden, insbesondere angesichts der Konflikte in der Ukraine und dem Nahen Osten, um Anschläge zu verhindern.
Was können Fans tun, um Terror zu verhindern?
Marc Lürbke sagt: „Augen offen halten nach seltsamen Situationen und diese der Polizei melden. Nicht zögern. Lieber einmal zu viel die Polizei einschalten, als einmal zu wenig.“
