Eine Arztpraxis für Menschen, die sonst keine Arztpraxis betreten würden. Das Gasthaus hat seine medizinische Hilfe für wohnungslose Menschen erweitert. © Felix Guth
Gasthaus
Ehrenamtliche Ärztin muss Wohnungslose nicht mehr in Küche behandeln
Viele Menschen in der Stadt sprechen über Wohnungslosigkeit, nicht immer stimmt der Ton. Derweil gibt es einen wichtigen Fortschritt in der Versorgung von wohnungslosen Menschen in Dortmund.
An der Rheinischen Straße hat die Initiative Gasthaus neue Praxisräume eröffnet. Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, erhalten hier medizinische Hilfe auf einem höheren Niveau als bisher.
Entstanden ist eine Art Polyklinik, wie sie manch ländliche Gemeinde in Deutschland gerne hätte. Dank verschiedener Spenden ist die Praxis um eine Etage und neue medizinische Geräte erweitert worden.
Hier arbeiten zehn Allgemeinmediziner, zwei Psychiater, zwei Augenärztinnen, ein Zahnarzt, ein Gynäkologe und ein Unfallchirurg – allesamt ehrenamtlich. Die Praxis an der Rheinischen Straße ist schon seit 2013 ein wichtiger Anlaufpunkt für Wohnungslose. Bis zu 50 Patienten wurden hier zuletzt in den drei Stunden Öffnungszeit des Gasthauses behandelt – viel zu viele für zu wenig Platz.
Augen-Untersuchungen fanden bisher in der Mitarbeiterküche statt
Die Augenärztin Dagmar Reinke-Ziemssen nahm Untersuchungen bisher in der Mitarbeiterküche vor. Jetzt steht sie in einem Raum voller moderner, funktionsfähiger medizinischer Geräte. Sie kann hier Sehtests vornehmen, die Netzhaut scannen oder den Augeninnendruck messen.
Dagmar Reinke-Ziemssen ist Augenärztin im Ruhestand und hilft ehrenamtlich im Gasthaus an der Rheinischen Straße. © Felix Guth
„In einer normalen Praxis würde man das nur auf mehr Fläche verteilen. Aber meine Arbeit hier ist näher am Menschen als in der Zeit, in der ich eine eigene Praxis hatte“, sagt die 74-Jährige. Seit zwei Jahren engagiert sie sich als Ärztin im Gasthaus. Das sei erfüllend, auch wenn sie mit Menschen in schwierigem körperlichem oder psychischem Zustand zu tun habe.
Zahnarztstuhl und Gynäkologenstuhl in einem Raum
Im Nebenraum stehen ein Zahnarztstuhl und ein Stuhl für gynäkologische Untersuchungen nebeneinander. „Nordpol und Südpol in einem Raum“, sagt der Dortmunder Gynäkologe Dr. Gerhard Funke. Zeitgleich seien die Stühle selbstverständlich nicht in Betrieb. Aber sie zeigen, was möglich und auch notwendig ist.
Dr. Gerhard Funke ist Gynäkologe in Dortmund und behandelt ehrenamtlich wohnungslose Frauen im Gasthaus. © Felix Guth
Gerhard Funke erzählt von zwei schwangeren Frauen, die hier zum ersten Mal Kontakt mit einem Frauenarzt hatten. Ein Hinweis auf die nur am Rand thematisierte spezielle Situation von obdachlosen Frauen. Funke ruft insbesondere weibliche Kolleginnen dazu auf, einen Teil ihrer Zeit für die Arbeit im Gasthaus zur Verfügung zu stellen.
Zur Praxis gehören auch ein Labor sowie Räume für Sozialberater und Rechtsanwälte. Kurzum: Sie bietet professionelle Hilfe für Menschen, die aus Schamgefühl und weil sie in der Regel nicht krankenversichert sind, eine Arztpraxis nicht aufsuchen können.
Dass so eine Praxis überhaupt notwendig ist, ist ein schlechtes Zeichen
Die gut ausgestattete Praxis ist ein wichtiges Zeichen in einer Zeit, in der das Thema Wohnungslosigkeit in Dortmund präsent ist wie lange nicht. Dass sie überhaupt notwendig ist, ist aber zugleich Ausdruck eines Problems.
Uwe Martinschledde, für die Piratenpartei Mitglied in der Bezirksvertretung Innenstadt-West, fasst es in einem Gespräch mit der Augenärztin Dagmar Reinke-Ziessmer treffend zusammen: „Die Verantwortung, die Sie übernehmen, ist Verantwortung, die andere bewusst liegen lassen.“
Die Corona-Krise hat neue Existenznöte geschaffen. Gesa Harbig vom Gasthaus sagt: „Die Bedürftigkeit hat insgesamt zugenommen. Wir sehen das an den Lunch-Paketen, die wir ausgeben, und an den Duschplätzen, die wir an der Leuthardtstraße anbieten.“ Dort ist innerhalb von vier Monaten die Zahl der Wohnungslosen, die sich im ehemaligen Kreiswehrersatzamt pflegen können, von 7 auf 50 gestiegen.
Die Eröffnung der neuen Praxisräume ist ein wichtiger Schritt für die Versorgung von Obdachlosen in Dortmund. © Felix Guth
Andere Einrichtungen aus der Obdachlosenhilfe beschreiben eine ähnliche Entwicklung. Zugleich entsteht bei einzelnen Geschäftsleuten und Anwohnern der Dortmunder Innenstadt ein Gefühl von Unsicherheit durch wohnungslose Menschen in ihrem Umfeld.
Extreme Armut ist in der Stadt sichtbar
Im Stadtbild ist extreme Armut an vielen Stellen gegenwärtig. Sei es am Gasthaus, wo Besucher längst ein Teil des Unionviertels im Schatten des U-Turms sind. Sei es die lange Almosen-Schlange vor der Reinoldikirche nach dem Sonntagsgottesdienst, seien es Menschen auf Sitzbänken oder vor Geschäften rund um den Westenhellweg.
Akteure aus der Wohnungslosenhilfe kritisieren außerdem den Ton, mit dem die Debatte teilweise geführt wird und mangelnde Bereitschaft, sich auf andere einzulassen.
So äußert sich Colin Fischer von der Kana-Suppenküche ausführlich zu einer von dieser Redaktion veröffentlichten Beschwerde über Obdachlosenlager auf privaten Terrassen: „Anstatt sich über Menschen zu echauffieren, die gezwungen sind, grundlegenden Bedürfnisse in aller Öffentlichkeit nachzukommen, würden wir alle betroffenen Bürgerinnen und Bürger gerne einladen, zu einer unserer Öffnungszeiten zu kommen, unsere Gäste persönlich kennen zu lernen und über die Schwierigkeiten beim Zusammenleben zu sprechen.“
Kritik an Ökonomisierung
Anfang September ist bekannt geworden, dass das Unternehmen European Homecare die neue Männerübernachtungsstelle betreiben wird. An dieser Ökonomisierung von sozialer Arbeit gibt es auch Kritik. Diese äußern unter anderem Forscher der Fachhochschule Dortmund, die in Interviews mit wohnungslosen Männern Unzufriedenheit damit ermittelt haben, wie in Übernachtungsstellen mit ihnen umgegangen wird.
Alle diese Phänomene zeigen: Es gibt Anlass, mehr über Ursachen und Folgen von Wohnungslosigkeit zu reden. Im Wahlkampf war es allerdings still um das Thema. Zum Stichtag 30. Juni 2019 waren in Dortmund rund 1700 Menschen als wohnungslos gemeldet.
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