
© Irina Höfken
Vater von drei Kindern im Distanzunterricht: „Zukunft macht mir Angst“
Digitales Lernen
Homeoffice und Digitalunterricht bringen eine Dortmunder Familie mit drei Kindern ans Limit. Wie läuft der Alltag eigentlich ab? Ein Vater hat mit uns seine Erfahrungen und Sorgen geteilt.
„Paaapaaa, ich bin aus der Konferenz geflogen!“, rufen die Jungs aus ihren Zimmern. Der Strom ist ausgefallen und im Hause Wespel herrscht Panik. Bis der WLAN-Router wieder startklar ist, ist der Online-Unterricht so gut wie gelaufen und die bearbeiteten Arbeitsblätter sind futsch.
Um 8 Uhr startet Familie Wespel in den Tag, oder genauer: in den Digital-Unterricht. Dieser ist ein Thema, zu dem wir in unserer großen Online-Umfrage auch die Dortmunder Eltern befragt haben. 290 haben geantwortet. Unterm Strich geben sie dem digitalen Lernen in Dortmund überwiegend keine guten Noten.
Der 13-jährige Frederik und der 10-jährige Mads besuchen normalerweise das Helene-Lange-Gymnasium, jetzt büffeln sie vor dem Tablet zu Hause. Die 8-jährige Philine ist in der dritten Klasse auf der Schubert-Grundschule. Wenn Vater Ralph nicht die Rolle des Wohnzimmer-Lehrers übernimmt, macht er die Büroarbeit der Zahnarztpraxis seiner Frau.
Vater, Organisator und Lehrer im Distanzunterricht
Jeden Abend checkt Ralph Wespel noch einmal die Mails, um gut organisiert in den Tag zu starten. Neben den Mails fürs Büro arbeitet er die seiner drei Kinder ab, um den Schultag vorzubereiten. Es trudeln über den Tag verteilt Schulmails mit den Uhrzeiten für Videokonferenzen ein, Arbeitsmaterial und Feedback zu den jeweiligen Aufgaben. Mit den unterschiedlichen Plattformen kommt er mittlerweile klar.
Wer hat wann eine Konferenz? Brauchte Frederik noch das Mathe-Arbeitsblatt oder musste ich das für Mads ausdrucken? Papa Ralph behält mit Mühe den Überblick, druckt, was das Zeug hält, und schreibt die Erinnerung für jeden auf kleine Zettel: Englisch-Videokonferenz um 9 Uhr.

Vater Ralph beantwortet die Fragen seiner Kinder, so gut er kann. © Irina Höfken
„Ich bin müde“, sagt der 50-Jährige. „Und in dem letzten Jahr um mindestens drei Jahre gealtert - und das, obwohl ich wirklich in einer privilegierten Situation bin“, sagt er. Er könne immer Homeoffice machen und die Kinder betreuen.
Oft fehle ihm für seine Arbeit aber schlichtweg der Laptop, weil er für die Videokonferenz der Kinder gebraucht werde. Für die Fragen seiner Kinder unterbricht er seine Arbeit mehrmals täglich. Und: Es gibt immer neue Krisenherde.
Mobile Geräte? Fehlanzeige
Mobile Endgeräte für den Unterricht zu Hause habe keines seiner Kinder bekommen. Mit ihrer privaten Ausstattung kommen sie klar, aber damit seien sie die Ausnahme. Schwierig werde es aber, wenn die Jüngste auch einen Videocall habe: „Dann kommen auch wir an unsere Grenzen.“
Das Schlimme sei, sagt Wespel, dass die Online-Tools der Schulen nur auf Geräten mit einem bestimmten Softwarestand funktionieren. Tablets, die etwa fünf Jahre alt seien, könne man schon vergessen. Er wisse von vielen Schülern, die mit dem Handy am Unterricht teilnehmen müssten. Wie solle man damit Arbeitsblätter bearbeiten?
2020 ab ins kalte Wasser: Politik hat gepennt
„Die Bundesregierung hat schon vor Corona versäumt, die Weichen für digitales Lernen zu stellen. Dabei geht‘s nicht nur um fehlende Geräte, sondern auch um fehlende digitale Lehrmittel“, sagt Ralph Wespel. Die wenigsten Arbeitsblätter könne man online bearbeiten, auf den Druckkosten bleiben die Eltern sitzen.
Alle - Lehrer, Eltern, Schüler - seien 2020 Corona-bedingt schlagartig ins kalte Wasser geschmissen worden. Vor der Pandemie habe es gar kein Online-Konzept gegeben. „Unterricht“ habe man das im ersten Lockdown gar nicht nennen können. Die Voraussetzungen hätten komplett gefehlt - die Politik habe gepennt.

Tablets und Laptop sind bei den Wespels immer in Gebrauch: Wenn die Kinder den Laptop gerade nicht für den Unterricht brauchen, arbeitet Vater Ralph daran im Homeoffice. © Irina Höfken
Am Gymnasium der Jungs habe sich jetzt schon viel getan, vor allem wegen des Engagements der Schule und Lehrer. An der Grundschule gebe es eigentlich noch immer kein Online-Konzept. „Da ist noch deutlich Luft nach oben.“
Digital-Unterricht könne seiner Meinung nach den Präsenzunterricht nicht ersetzen. Das digitale Lernen sei „massiv anstrengend“. Dem Videounterricht zu folgen erfordere schon eine hohe Konzentrationsleistung, allein wegen des Bewegtbilds und Tons. Dazu müssen die Themen parallel bearbeitet werden. „Meine Kinder haben nun oft rot unterlaufene Augen und glühende Wangen.“
„Die Zukunft macht mir Angst“ - Kinder sind am Limit
Die Lehrer, die keinen „Live-Unterricht“ anbieten, schicken Lernvideos und Aufgaben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich die Kinder den Stoff selbst beibringen müssen. „Welches Kind kann das?“, fragt Wespel.
Allein die Fragestellung sei oft für die Kinder ein Problem. „Papa, wie meinen die das?“, sei die am häufigsten gestellte Frage. Die Hausaufgaben hätten auch deutlich zugenommen. Ob die Lehrer wohl nicht einschätzen können, wie lange die Kinder für diese Aufgaben wirklich bräuchten, das fragt sich der dreifache Vater.
Seine Kinder wollen lernen, sagt Ralph Wespel, aber alle drei seien am Limit. Der Druck auf Achtklässler Frederik sei besonders groß. Für ihn steht das Abitur schon nach der zwölften Klasse an. Außerdem sei er ein „eher introvertierter“ Schüler, ziehe sich im Distanzunterricht jetzt noch mehr zurück.
Fünftklässler Mads hat bis zum Abi immerhin wieder ein Jahr mehr Zeit. Die Motivation sinke zunehmend bei beiden Jungs. Und Drittklässlerin Philine? Die treffe es wohl am härtesten, sagt Vater Ralph.
Heftiger Leistungsunterschied - separater Unterricht
Der Leistungsunterschied in der Grundschulklasse werde immer heftiger. Die Hälfte der Kinder etwa werde komplett abgehängt. Im Wechselunterricht ab Montag (22.2) werde versucht, diese Kinder im separaten Unterricht wieder abzuholen.

Die Drittklässlerin Philine ist besonders hart vom Lockdown getroffen. Ab Montag (22.2.) startet sie aber wieder in den Wechselunterricht. © Irina Höfken
„Es hat sich eine Zwei-Klassen-Schülerschaft entwickelt. Auch am Gymnasium. Wie soll man die wieder zusammenbringen?“ Das macht Ralph Wespel große Sorgen: „Die Zukunft macht mir Angst.“
„Hömma, hasse dat schon gehört?“ So (oder so ähnlich) beginnen die besten Geschichten aus dem Pott, wo ich zu Hause bin. Es gibt nichts Besseres, als diese aufzuspüren und dann in Text, Bild und Video festzuhalten.
