Einen hautnahen Einblick in das Gefühlsleben der Menschen aus der Ukraine bekamen die rund 100 Besucher und Besucherinnen, die am Mittwoch (1.3.) der Einladung der Auslandsgesellschaft gefolgt waren. Iryna Shum, Generalkonsulin der Ukraine in Düsseldorf, sprach über „das schrecklichste und würdigste Jahr in unserem Leben.“
Sie zitierte damit Vasyl Khymynets, den ukrainischen Botschafter in Österreich, zum Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar. Und sie erzählte von einer ukrainischen Theater-Statistin in Düsseldorf. Die habe zu ihr gesagt: „Erst am 24. Februar haben wir Ukrainer verstanden, wie glücklich wir waren.“ Der Tag, der alles änderte – vom sorglosen Leben zur Tragödie.
Ihre Freundin, berichtet Shum, habe einen Philosophen geheiratet und sei nun Frau eines Militärs – und eines guten Fotografen. Seine Bilder von der Front sind heute im Museum in Boston zu sehen.

Neben persönlichen Eindrücken hatte Iryna Shum, seit 2009 im diplomatischen Dienst und seit Juni 2021 Generalkonsulin, auch Zahlen und Statistiken zur Hand. Die Mehrheit der eine Million Flüchtlinge in Deutschland wolle zurück. „Die Menschen waren zufrieden mit ihrem Leben.“
Stabilität und Solidarität
Der Krieg habe verheerende Auswirkungen gehabt auf die Wirtschaft, aber nicht so schlimm wie erwartet, so die Diplomatin. Das Bruttoinlandsprodukt sei um 30 Prozent eingebrochen, erwartet worden seien über 50 Prozent. Mehr als 60 Prozent der Unternehmen produzierten weiter. 800 Unternehmen seien umgezogen aus dem Osten und Norden zum Westen, manche auch ins Ausland.
Shum appellierte an die Wirtschaft, alte Beziehungen aufrechtzuerhalten und neue zu knüpfen: „Wir brauchen Stabilität und Solidarität“. Sie warb für Städtepartnerschaften – Dortmund plant eine mit Schytomyr – auch als Brückenbauer in die Europäische Union, und sie plädierte für den Austausch von Schulen, Hochschulen, Vereinen und Jugend sowie für anhaltende Demonstrationen. „Die Menschen in der Ukraine registrieren das.“

Klaus Wegener, Präsident der Auslandsgesellschaft, der die Veranstaltung moderierte, befragte Shum zur Chance auf Friedensverhandlungen. „Wir wollen, dass der Frieden so schnell wie möglich kommt“, versicherte sie, stellte aber auch klar: „Wir brauchen keine Zeitbombe. Wir wollen einen gerechten Frieden, bei dem wir sicher sind, dass in zwei Jahren kein neuer Angriff kommt.“
Kein Raum für Kompromisse
Das Ziel Russlands bleibe – das habe Putin jüngst noch einmal deutlich gemacht –, die Ukraine zu vernichten, so Shum: „Wenn jemand kommt, um uns zu töten, ist kein Raum für Kompromisse.“ Die kurzfristige Perspektive sei, eine Ukraine in den anerkannten Grenzen und die langfristige Perspektive, „dass Russland nicht nur keine Bedrohung mehr für uns, sondern für das ganze Europa darstellt.“
Der Frage Wegeners nach der Angst vor einem Atomkrieg begegnete Shum mit einer Gegenfrage: „Was ist die Alternative?“ Putins Hauptwaffe sei Angst. „Er schürt einfach Angst und hat gesehen, dass das funktioniert seit der Annexion der Krim.“ Doch im Gegensatz zu damals sei die Antwort heute eine andere. Alle hätten Angst, aber man stehe zusammen. Shum: „Das ist eine psychologische Kriegsführung von der guten Seite. Wir sind einig, wir lassen uns nicht mit Angst besiegen.“
Samstags geöffnet
Unter den Besuchern waren einige Ukrainer. Mehr als 7500 leben in Dortmund. Sie haben noch ein anderes Problem. Sie bekommen keinen Termin, um beim Generalkonsulat wegen Passangelegenheiten vorzusprechen. Der Ansturm ist zu groß.
Vor dem 24. Februar sei sie für 27.000 Ukrainer zuständig gewesen, so die Konsulin, heute seien es 226.000. Um Abhilfe zu schaffen, plane man Dependancen in anderen Städten, die samstags öffnen sollen. Bielefeld mache den Anfang. „Wir werden Dortmund als weiteren Ort berücksichtigen“, kündigte Shum an. „Die Räumlichkeiten dafür haben sie schon“, sagte Wegener spontan, „hier im Auslandsinstitut“
Reaktionen auf Westphal-Aufruf: „Mit Abwarten mitschuldig an Kriegsverbrechen“
Warum Nastja (26) sterben musste: Generalkonsulin hält bewegende Rede in Dortmund
„Wir hatten ein gutes Leben, jetzt bekommen wir Sozialhilfe“: Ein Jahr Ukraine-Krieg - Geflüchtete b