Es ist kurz nach 19 Uhr an einem Sonntagabend Ende August, da kommt ein schwarzer Kombi auf den Platz vor dem Dortmunder Hauptbahnhof vorgefahren. Rundherum versammeln sich viele Menschen. Sie warten gespannt darauf, was sich heute wohl im Kofferraum befindet.
Aus dem Auto steigt eine rothaarige Frau aus Herne, Sylwia Rother, und löst das Rätsel: „Heute gibt es Kartoffelpüree-Sylwia-Art, mit Gemüse, Fleisch, alles drin.“
Die Essensausgabe hat Tradition. Jede Woche stellt sich Sylwia Rother mit ihrem Lebensgefährten Torsten und ihrer Tochter Sarah vor den Hauptbahnhof und teilt ehrenamtlich frisch gekochte, warme Mahlzeiten an alle aus, die es nötig haben.
Nicht immer sind es Obdachlose. Für manche reicht das Geld einfach nicht für etwas Warmes. Und manche genießen einfach das Beisammensein und die fröhliche Stimmung, die Sylwia ausstrahlt.
Hilfe mit Herz und Seele
„Wenn ich hier bin, dann nicht nur mit meinem Essen, sondern auch mit Herz und Seele“, sagt Sylwia. Für sie ist es sehr wichtig, nicht nur Essen oder Schlafsäcke auszuteilen, sondern auch menschlich für die Bedürftigen da zu sein: „Ich rede mit den Leuten. Frage, welche Probleme sie haben und was sie brauchen.“

Und das zeigt Wirkung. Sylwia schart viele Personen um sich, schon während der Essensausgabe sieht man sie mit den Menschen, die bei ihr etwas zu essen abholen, reden und lachen. Manchmal ärgern sie sich sogar freundschaftlich. Es wirkt sehr familiär. „Sylwia ist super, und ihr Essen ist einfach Bombe“, sagt eine Frau, die nicht erkannt werden möchte. Sie ist damit eine von vielen.
Das Stigma für Wohnungslose, Arme oder Drogenkranke ist immer noch vorhanden in der Gesellschaft. Das merkt man. Wenn man den Gesprächen lauscht, scheint immer etwas Unsicherheit mitzuschwingen. Man hört in Gesprächen teilweise Misstrauen gegenüber anderen Bedürftigen. Einer soll nur Quatsch erzählen, der nächste braucht das Essen vielleicht gar nicht so nötig.
Und einige sagen, dass auf keinen Fall bekannt werden soll, dass sie hier an Sylwias Kombi stehen. Dabei ist es längst nicht so, dass sich hier Menschen aus nur einer vermeintlich niedrigeren Schicht versammeln, die irgendwelche Klischees erfüllen. Hier landet jeder, bestätigt Sarah, die Tochter von Sylwia, die seit circa einem Jahr bei der Ausgabe hilft.
Jeder kann in die Armut rutschen
Sarah ist mittlerweile 25 Jahre alt. Sie hat das Engagement ihrer Mutter von Anfang an mitbekommen, seit einem Jahr ist sie regelmäßig dabei. „Mama hat mich irgendwann mitgenommen, sie wollte damit auch, dass ich ein bisschen mehr von der Welt mitkriege, und dass ich selbst nicht den Kopf in den Sand stecke. Denn wenn man hier den Menschen hilft und deren Geschichten hört, stellt man sich dem Leben ganz anders.“
Da bei der Essensausgabe alle Menschen sehr eng um Sylwias schwarzen Kombi stehen, bleibt nicht unbemerkt, was Sarah sagt: „Auf diese Tochter kannste stolz sein“, ruft eine weitere Frau Sylwia zu. Die erwidert, gerade noch einen Teller Püree austeilend: „Das bin ich, sie ist meine Blume!“

„Hier ist fast jeder so nett“, sagt Sarah, „klar gibt es Ausreißer, aber die sind eher selten.“ Das habe auch mit der Situation im Allgemeinen zu tun. Menschen in Armut, in Obdachlosigkeit seien oft einfach gefrustet. Sie haben oft ein schweres Schicksal. Und oft ist es nicht einmal selbst verschuldet: „Manche Leute hier waren sogar Ärzte. Das ist schon krass. Hier kommen wirklich alle Schichten zusammen.“
Aggressionen gehören dazu
Zu allen positiven Erlebnissen kommen natürlich auch die negativen. „Vor fünf Wochen zum Beispiel. Da hatten wir mal einen jungen Mann, der wurde aggressiv, hat uns beleidigt, Menschen geschubst. Sowas kommt natürlich vor“, erzählt Sylwia Rother, „aber wenn man sowas macht, muss man damit einfach rechnen.“
Denn die Klientel, für die Sylwias Hilfe gedacht ist, habe einfach Probleme, die sich nur schwer mit denen anderer Menschen vergleichen lassen: „Viele sind ja auch friedlich. Aber manche sind zum Beispiel süchtig nach irgendwelchen Drogen. Die verhalten sich dann manchmal entsprechend außer der Reihe.“ Für sowas sei die Polizei aber immer da. „Man darf sich das hier nicht so zu Herzen nehmen, wenn es mal passiert“, sagt Sylwia.
Passend zu ihren Erzählungen sieht man mehrere Männer an etwas ziehen, das wie Crackpfeifen aussieht. Ein paar Menschen im Umfeld von Sylwias Kombi reagieren empört. Sylwia klärt es souverän und empathisch: „Lasst uns einfach nicht hingucken, wir können es eh nicht ändern.“ Und die Situation, inklusive der Männer, bleibt friedlich.
Lage in Dortmund „eine Katastrophe“
Angefangen, für Menschen in Armut zu kochen, hat Sylwia Rother vor drei Jahren. Sie gründete die Stiftung Obdachlosenhilfe Ruhrgebiet. Innerhalb dieser Stiftung sammelte sie Spenden „von Privatpersonen, Getränkemärkten und vielen anderen“. Zuerst nur für Herne, ihre Heimatstadt, wo sie immer noch das Essen zubereitet.

Auf die Situation in Dortmund wurde sie durch ihren Bruder aufmerksam. Der wohnt nämlich in der Großstadt. Sylwia erinnert sich noch genau, was in ihr vorging, als sie das erste Mal sah, wie die Lage am Hauptbahnhof ist: „Es war eine Katastrophe. Es war Winter. Als ich gesehen habe, was hier los ist...“, sie stöhnt nur, „Ich habe wirklich geweint am Anfang. Es war schrecklich, hier lagen einige in der Kälte auf dem Boden.“
Da sei ihr klar geworden, dass sie ihr Angebot erweitern will. Mittlerweile kommt sie jeden Sonntagabend, von 19 Uhr bis der Topf leer ist, zum Dortmunder Hauptbahnhof. Mit Herne und Recklinghausen bedient sie also drei Städte. Mit Gelsenkirchen soll bald eine Vierte hinzukommen. Ermöglicht wird das alles durch Spenden.
Spenden wurden immer zahlreicher
Sylwia macht jede Aktion lediglich mithilfe ihres Lebensgefährten Torsten und ihrer Tochter Sarah. Am Anfang sei es schwer gewesen, da sie auf Spenden angewiesen war und auch immer noch sei. Bis heute landen all jene Zutaten in Sylwias Topf, die da sind. „Hauptsache frisch und mit Gemüse. Das ist mir wichtig. Ansonsten gibt es, was da ist, auf Sylwia-Art“, sagt sie und lacht.
Inzwischen, drei Jahre später, läuft es bei ihr besser. „Wir suchen aktuell einen Lagerplatz für die vielen Spenden. Ich bin für all die Spenden sehr dankbar, aber jetzt brauchen wir einen Ort, irgendwo in Herne, wo wir alles unterkriegen können.“ Inzwischen wachse die Aktion, die als kleine Hilfe gedacht war, nämlich zu mehr als einem Vollzeitjob an, sagt sie.
Mehr als ein Vollzeit-Job
Eintopf, Kuchen, Brötchen. Das alles zu besorgen und dann noch zu kochen, das nimmt Zeit in Anspruch. Oft müssen Sylwia und Torsten bis in die Nacht wach sein, um Spenden anzunehmen. „Und dann am Sonntag fange ich ungefähr um 13 Uhr an zu schnibbeln. Manchmal helfen meine Tochter und mein Lebensgefährte. Um kurz vor sieben sind wir dann fertig und fahren zum Dortmunder Hauptbahnhof.“

Und genau dort wurde sie an diesem Sonntag besonders herzlich empfangen. Bis kurz vor 21 Uhr dauert die Essensausgabe. Begleitet von Späßen, guter Laune und der einen oder anderen gemeinsamen Zigarette. „Normalerweise fahren wir noch weiter in den Stadtgarten. Zumindest, wenn noch was übrig ist.“ Sylwia blickt in den leeren Topf. „Heute hat das Essen den Menschen am Bahnhof wohl zu gut geschmeckt.“ Das freut Sylwia immer noch sehr, sagt sie. „Es fühlt sich immer gut an, wenn die Menschen mögen, was man kocht.“
Und schaut man den Leuten vor Ort in die Gesichter, mögen sie nicht nur, was Sylwia kocht. Viele äußern sich dazu, wie nett sie es immer fänden, mit ihr persönlich. Dass es gut tue, mal mit Menschen zu sprechen. Sylwia: „Dafür bin ich da. So eine schnelle Abfertigung, ratzifatzi fertig. Das mache ich nicht.“
Sylwias Plan ist klar: „Ich möchte das Ganze noch so lange machen, wie ich kann – oder so lange die Gesundheit es zulässt.“ Nun fahre sie glücklich zurück nach Herne, nach Hause in ihre kleine Wohnung mit der nur fünf Quadratmeter großen Küche, wie sie erzählt. Und da bereitet sie schon die nächste Hilfsaktion vor. Das nächste Gericht nach Sylwia-Art.
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