Immer größer wird die offene Drogenszene in der City, immer lauter der Aufschrei von Händlern und Anwohnern. „Ich lebe seit 1968 in der Innenstadt. So viel Bettelei und so viele Drogenkranke auf dem Westenhellweg gab es noch nie. Ich traue mich abends gar nicht mehr raus. Die Menschen liegen vor der Tür“, sagt die 80-jährige Ina Gercken. Der Thier-Galerie-Chef, Torben Seifert, ist noch kein Jahr in Dortmund. Aber auch er stellt fest: „Wir haben hier ein großes Problem.“
Torben Seifert hat Absperrgitter aufstellen lassen, um die Drogenkranken von dem Einkaufszentrum fern zu halten. Weil die großen Nischen mit den Schaufenstern an der Martinstraße etwas Sichtschutz für Dealer und Konsumenten bieten, und sie ganz nah an der Drogenhilfeeinrichtung (Drogenkonsumraum Café Kick) am Grafenhof liegen, trafen sich dort morgens zunehmend mehr Leute aus der Drogenszene. „Das waren mal so sechs, jetzt waren es letztens aber bis zu 30 Leute, die dort zusammenkamen“, sagt Torben Seifert.
Tun Polizei und Ordnungsamt nicht genug, um die öffentliche Ordnung sicherzustellen? Wird der verbotene Besitz und Konsum von Drogen, das Dealen, das Stehlen, das aggressive Betteln, das Verrichten der Notdurft im öffentlichen Raum zu sehr geduldet? Für Tobias Heitmann, der als Cityring-Vorsitzender die Interessen der Kaufmannschaft vertritt, ist das so: „Wir haben einen Runden Tisch zu der Thematik und alles hundertmal besprochen. Die Händler erwarten, dass Taten folgen.“
Intensive Kontrollen
Die offene Drogenszene dürfe nicht als unvermeidliche Folge einer liberalen Drogenpolitik hingenommen werden, sagen Cityhändler und Anwohner und rufen nach repressiven Maßnahmen.

Während Tobias Heitmann sich mehr Polizei und Ordnungskräfte rund um den Drogenkonsumraum, wo Abhängige ihre Sucht unter medizinischer Aufsicht und mit sauberen Instrumenten befriedigen können, wünscht, und man seitens der Thier-Galerie in einem Akt der Verzweiflung zur Selbsthilfe griff und Absperrgitter aufstellte, verweist die Stadt Dortmund auf intensive Kontrollen, die es in der City längst gebe.
Mitarbeiter des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD) seien - auch in gemeinsamer Streife mit der Polizei - sowohl in uniformierter als auch in ziviler Kleidung in der City eingesetzt.
„Der Bereich rund um den Drogenkonsumraum wird dabei mehrfach täglich bestreift“, heißt es auf eine Anfrage unserer Redaktion. Ordnungswidrigkeiten würden konsequent geahndet, auch der verbotswidrige Drogenkonsum.

„Neben der Verhängung von Verwarn- und Bußgeldern – etwa wegen Verrichten der Notdurft, unerlaubter Abfallentsorgung, aggressiven Bettelns oder Lärmbelästigungen – fertigt der KOD auch in den Fällen, in denen beim öffentlichen Konsum sogenannter ‚weicher Drogen‘, wie zum Beispiel Cannabis, kein Nachweis über deren Besitz mehr zu erbringen und eine strafrechtliche Verfolgung aussichtslos ist, regelmäßig Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen Drogenkonsumenten an“, sagt Stadtsprecher Maximilian Löchter.
880 Verfahren eingeleitet
Wegen unerlaubten Drogenkonsums wurden in der City im ersten Halbjahr 2023 insgesamt 880 Ordnungswidrigkeiten-Verfahren eingeleitet. Eine Ordnungswidrigkeit ist in Deutschland eine bußgeldbewehrte Verletzung von Ordnungsrecht. Es ist die Handhabe, die der Stadt gegeben ist - unabhängig davon, wie hilfreich es ist, Drogenkranken ans ohnehin nicht vorhandene Geld zu gehen.

Für den Außendienst sind beim Kommunalen Ordnungsdienst der Stadt Dortmund 71 Planstellen eingerichtet. Ein Großteil des Personals werde in der Innenstadt eingesetzt, erklärt Sprecher Maximilian Löchter.
Auf die Frage, ob die Stadt Dortmund im Umgang mit dem Drogenkonsum in der City den gegebenen Rechtsrahmen ausschöpfe, antwortet er: „Wie schon benannt, fertigt der KOD in allen bekannten Fällen Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen Drogenkonsumenten. 880 eingeleitete Verfahren in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 zeigen, dass hier ein Großteil der Arbeit des KOD liegt.“
Polizeipräsident Gregor Lange erklärt, dass die Polizei Dortmund allen Beschwerden und Hinweisen auf illegalen Handel mit Betäubungsmitteln oder andere Missstände nachgehe. „Für den Grafenhof, die Martinstraße und andere Bereiche in diesem Umfeld gibt es keine Sonderregeln, die den Drogenhandel tolerieren. Im Gegenteil: Die Kontrollen sind hier wegen der bekannten Situation besonders intensiv.“
Bisher 23 Strafanzeigen
Rund um den Drogenkonsumraum wurden in diesem Jahr bisher 23 Strafanzeigen mit Bezug zum Betäubungsmittelgesetz gefertigt. Seit 2020 bewege sich die Zahl der festgestellten Verstöße somit auf einem gleichbleibenden, niedrigen zweistelligen Niveau, so ein Polizeisprecher. Sie sei jedoch stark davon abhängig, wie viel kontrolliert werde.
Wird denn genug kontrolliert? Wie wirksam ist die Präsenz? „Die offene Präsenz der Ordnungspartnerstreifen in Kombination mit dem täglichen Einsatz der Mobilen Wache im direkten Nahbereich als auch die Einsätze der Fahrradstaffel und des Schwerpunktdienstes wirken sich positiv aus“, so die Antwort.
Gregor Lange sagt: „Für mich steht außer Frage: Ein leistungsfähiger Drogenkonsumraum ist elementar wichtig für die Suchthilfe in Dortmund, weil er Probleme von der Straße holt. Um die Probleme auf der Straße kümmern wir uns. Dabei überprüfen wir in einem fortlaufenden Prozess unsere Maßnahmen. Die Hinweise von Anwohnern und Einzelhändlern sind berechtigt und sehr wichtig für unsere Arbeit. Eins muss allen Beteiligten klar sein: Wir sprechen hier über Menschen mit einer Erkrankung, einer Sucht. Platzverweise und Strafanzeigen lösen solche Suchtprobleme nicht.“
Vor allem die Form der Suchtprobleme hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Immer mehr verbreitet hat sich Crack, eine Droge auf Basis von Kokain, die schnell abhängig macht, alle 30 Minuten konsumiert wird und die Abhängigen stark verwahrlosen lässt.
Es gibt irre Zahlen des Leiters des Drogenkonsumraums am Grafenhof. Jan Sosna stellte 2015 noch gerade mal 61 Konsumvorgänge mit Crack fest. 2021 waren es 7316. In diesem Jahr werden es wohl 20.000. Jan Sosna spricht von einem „Crack-Tsunami“.
Die Crack-Welle hat nun auch Oberbürgermeister Thomas Westphal alarmiert. „Crack verändert alles“, sagt er und stellt nun auch den von den Einzelhändlern schon lange kritisierten Standort des Drogenkonsumraums, in Frage. Die Einrichtung zu schließen, sei aber „ein großer Irrtum“. Der OB sagt auch: „Man hat sich im öffentlichen Raum zu benehmen - das gilt auch für Suchtkranke.“
„Hilfen schnell umsetzen“
Thomas Westphal steht vor der Lage, dass der „Crack-Tsunami“ ganz offensichtlich auf ein in Dortmund - und auch in anderen deutschen Großstädten - überfordertes Drogenhilfesystem trifft. Anpassungen laufen. So öffnet der Drogenkonsumraum jetzt schon morgens um acht Uhr. Und ab dem Herbst soll er auch abends länger zur Verfügung stehen.
Das allein wird aber wohl nicht helfen, die Drogenszene einzudämmen. Was helfen könnte, wird weiter diskutiert werden (müssen). Ein anderer Standort für den Drogenkonsumraum? Mehr Härte, mehr Repression? Mehr Hilfen? Weiter Schadensbegrenzung durch Toleranz, hygienische Bedingungen, medizinische Aufsicht, soziale Betreuung?

Für den Handel in der City, der bei seinen Kunden eine Abstimmung mit den Füßen über die Attraktivität des Westenhellwegs als Einkaufsmeile fürchten muss, ist es von großer Bedeutung, dass die Herausforderung gemeistert wird.
„Wie schon im Prozess zur Erarbeitung des Citymanagements identifiziert, stellt der Umgang mit der Drogen- und Obdachlosenszene zukünftig eine Basisaufgabe dar“, stellt Simone Bergmann, bei der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund Geschäftsführerin für den Bereich Handel, fest.
„Gespräche mit den ansässigen Einzelhändlern haben gezeigt“, sagt sie, „dass die steigende Anzahl der Drogenabhängigen und deren starke Präsenz in der City aktuell eine ihrer drängendsten Sorgen ist. Es gilt nun konkrete, ausreichende und nachhaltige Hilfsangebote für die Betroffenen zu schaffen und schnell umzusetzen. Das sehen wir als eine zentrale Notwendigkeit an, um das Sicherheitsempfinden in der City zu verbessern und die Aufenthaltsqualität wieder zu erhöhen.“
Dieser Artikel ist erstmals am 18.08.2023 erschienen.
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